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Hans-Christian Ströbele
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Frage von Sarah B. •

Frage an Hans-Christian Ströbele von Sarah B. bezüglich Kultur

Sehr geehrter Herr Ströbele,

Ich bin Sozialpädagogin und ich habe meinen Urlaub die letzten 3 Tage genutzt, um mir ungefähr 25 Stunden Bundestagsdebatten anzusehen (auf Youtube). DIe meisten davon waren von 2010, nur eine war von 2009 (da ich auch die Frau Schavan sprechen hören wollte, aber keine aktuellere Sache von ihr fand).

Da Fragen hier wegen der Zeichenbeschränkung nicht sehr weit ausführbar sind, muss ich es also sehr kurz machen:

Ich bin nach diesen 25 Stunden nicht enttäuscht oder entmutigt, aber ich habe einen faden Geschmack im Denken. Zum Großteil, so mein Eindruck, beleidigt man sich im Bundestag, polemisiert, wird ausfallend, abwertend; manche scheinen sich richtig zu hassen. Was alle anderen in der Vergangenheit falsch gemacht haben ist sehr wichtig, was alle heute falsch machen weniger, denn zu diesen, die *heute* etwas falsch machen, zählen sich die Redenden und Klatschenden nie. Die einzige Gegenwarts-kritische Aussage über alle Anwesenden im Parlament hörte ich von Sigmar Gabriel (15.09 2010), über "die Ressentiments bei (fast) allen hier.". Der Begriff des Ressentiments wurde danach für weitere Abwertungen anderer verwendet.
Äußerst beschämend fand ich eine Art Zynismus während der Debatten. Ich kann mir gut vorstellen, wie paradiesisch es demnächst für mich als Sozialpädagogin aussehen wird und auch wie es für die Leute aussehen wird, mit denen ich zu tun habe; dass man so etwas nutzen kann, um über Versprecher oder Patzer anderer herzhaft zu lachen, finde ich verletzend. Verzeiehen sie die Wortwahl, aber es ist für mich, als würde man auf mein Grab urinieren und dabei lachen und tanzen.

Was denken sie (aus unbestimmten Gründen halte ich Sie für zur Beantwortung geeignet), lernt sich über eigene Ethik, politische Ethik und gesellschaftliche Ethik, wenn Bundestagsdebatten verfolgt werden?
Ich bin ganz ehrlich zu ihnen: hätte ich ein Kind, ich hätte möglicher Weise Befürchtungen, es Bundestagsdebatten verfolgen zu lassen.

Portrait von Hans-Christian Ströbele
Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau Braunfeld.

Ihre Kritik an Ton und Wortwahl von Bundestagsdebatten kann ich nachvollziehen. Meinungsstreit muß sein und manchmal ist auch heftiger Streit angemessen. Aber offenbar ist er für Zuhörerinnen und Zuschauer häufig nur schwer zu ertragen.

Auch ich ärgere mich, wenn ich im Plenum an Debatten teilnehme. Allerdings aus anderen Gründen. Ich vermisse die sach- und fachliche Auseinandersetzung, das Ringen darum, andere zu überzeugen und Mehrheiten für Auffassungen zu gewinnen.

Stattdessen werden fertige festgezurrte Positionen verkündet, häufig mit Worten und Formulierungen, wie wir sie schon vorher immer wieder gehört und gelesen haben. Die Entscheidungsfindung findet nicht im Bundestag, jedenfalls nicht im Plenum nach dem Austausch von Argumenten statt, sondern sind längst an anderer Stelle ausgehandelt worden. Im Plenum werden die bekannten Positionen nur nochmal öffentlich wiederholt und dargestellt.
Das ist häufig sehr ermüdend, auch wenn die Debatte noch nicht 15 Stunden bis tief in die Nacht gedauert hat, und es ist langweilig.
Vielleicht sind das Gründe dafür, warum Rednerinnen und Redner Polemik, Zwischenrufe oder heftige Worte gerade noch diesseits oder schon jenseits der Anstandsgrenze bemühen, um in der Debatte Aufmerksamkeit zu bekommen und Spannung zu erzeugen.

Ich räume ein, daß ich mich zuweilen daran auch sehr emotional beteilige.
Ich nehme an den Debatten, die nicht mein Arbeitsbereich betreffen teil, um mir Probleme und Lösungsvarianten erklären zu lassen und neue Argumente auch für die öffentliche Auseinandersetzung zu sammeln. Allerdings stelle ich immer wieder fest, daß die Aufnahmefähigkeit nach sechs sieben Stunden des Sitzens und Zuhörens nachläßt. Erst Polemik, Emotionen, Gelächter, Beifalls- oder Mißfallensäußerungen erwecken neue Aufmerksamkeit.

Eine Änderung der Debattenkultur ist wohl durch Kritik und gutes Zureden nicht zu erreichen. Es muß gelingen, die Entscheidungsfindung deutlich mehr ins Plenum des Bundestages zu verlegen, für alle nachvollziehbarer zu machen und die spontane Beteiligung auch nicht vorbestimmter Debattenredner zu ermöglichen.

Dafür setze ich mich ein.

Mit freundlichem Gruß

Ströbele