Frage an Hans-Christian Ströbele von Elke L. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Ströbele,
was spricht Ihres Erachtens gegen die Einführung des Mehrheitswahlrechts?
(...vom Eigeninteresse der Parteien abgesehen.)
Schöne Grüße nach Berlin!
Ihre Elke Lutz
Sehr geehrte Frau Lutz.
Für das Mehrheitswahlsystem spricht, daß eine größer Bindung der gewählten Abgeordneten zu den Wählerinnen und Wählern "ihres" Wahlkreises besteht, daß der Einfluss der Parteien und ihrer Vorstände auf die Kandidatenaufstellung schwieriger und damit auch geringer ist und daß die Mehrheitsverhältnisse nach der Wahl im Parlament in der Regel eindeutig sind und keine Notwendigkeit einer Koalitionsbildung besteht.
Gegen die Einführung des Mehrheitswahlrechts spricht aber, daß dieses gelegentlich zu dem ungerechten und undemokratischen Ergebnis führen kann, daß die Mehrheit im Parlament nicht von einer Mehrheit der Bevölkerung gewählt ist, sondern nur von einer Minderheit, daß große Teile der Bevölkerung im Parlament überhaupt nicht repräsentiert werden und daß neue Parteien und soziale Bewegungen es sehr schwer haben, mit eigenen Abgeordneten ins Parlament zu kommen.
Eine Partei, deren Kandidaten in der Mehrheit der Wahlkreise aber jeweils mit einer geringen Stimmenmehrheit gewählt werden - etwa mit 33 % vor 30 % und 29 % der Stimmen für Mitbewerbern - kann zu einer Mehrheit im Parlament kommen, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung eine andere Partei gewählt hat, nämlich wenn in weniger Wahlkreisen die Kandidaten dieser anderen Partei mit hohen Mehrheiten von 60 % oder 70 % gegen 20 % und 10 % der Stimmen für Mitbewerber die Wahl gewonnen haben.
Solche Ergebnisse, die dazu führen, daß die dann von der Parlamentsmehrheit gewählte Regierung gar nicht von der Mehrheit der Bevölkerung legitimiert ist, sind schon vorgekommen in Ländern mit Mehrheitswahlrecht.
Noch häufiger kommt es vor, daß die Partei, deren Kandidaten die meisten Stimmen erzielen, eine riesengroße Mehrheit (Zweidrittel und mehr)der Sitze im Parlament erreichen, obwohl sie von der Gesamtzahl der Wählerstimmen nur eine viel knappere Mehrheit erhalten hatten. Das ist immer dann der Fall, wenn besonders viele Kandidaten einer Partei in den Wahlkreisen gewinnen aber jeweils nur mit sehr knappen Mehrheiten. Die Stimmen der wenn auch noch so knapp unterlegenen Kandidaten werden ja nicht mehr bei der Zusammensetzung des Parlaments berücksichtigt.
Neue und kleine Parteien haben es schwer ins Parlament zu kommen, denn ihre Kandidaten müssen ja die Mehrheit im Wahlkreis gewinnen, was zumindest am Anfang kaum möglich sind,. Es sei denn, sie sind regional besonders stark in der Bevölkerung verankert. So fehlt dann eine Repräsentation ihrer Wählerschaft im Parlament, obwohl diese im ganzen Land 10 % oder gar 20 % ausmacht. Das macht für Neunfänge von Parteien wenig Mut.
Deshalb ist das Mischsystem in Deutschland, wonach die eine Hälfte der Abgeordneten direkt nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt werden und die andere Hälfte indirekt mit der Zweitstimme über Parteilisten einem reinen Mehrheitswahlsystem vorzuziehen. Damit ist es auch möglich Fachleute, die für die Arbeit wichtig sind, über die Liste ins Parlament einziehen zu lassen.
Mit freundlichem Gruß
Ströbele