Frage an Hans-Christian Ströbele von Detlef K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Ströbele,
ich empfinde es schon des längeren als besonders problematisch und gefährlich, dass offensichtlich unzufriedene Menschen unser Gesellschaft, die durch eine Nichtbeteiligung an Wahlen Ihre allmähliche Loslösung von demokratischen Spielregeln zeigen, allenfalls im Nebensatz eines Kommentators bei einer Wahlanalyse gehört werden.
Daher auch an Sie die Frage, die ich bereits Anfang 2009 an einzelne Bundestagsabgeordnete gestellt hatte: Wie bewerten Sie die Idee diese sogen. Nichtwählerschaft mit einer Art anteiligen Gewichtung zu einer abgegebenen Stimme in den Wahlausgang einzubinden - z.B. dadurch, dass im Umfange der Nichtteilnahme an Wahlen Plätze in Parlamenten nicht besetzt werden – bis etwa einem Mindestniveau zu der die Arbeitsfähigkeit noch sichergestellt ist ?
Dann würden auch diese unsäglichen Kommentare von Politikern gleichwelcher Couleur aufhören, dass Sie doch von der "Mehrheit der Stimmen" gewählt worden sein.
Und der Anteil der Nichtwählerschaft wäre auch optisch über die volle Legislaturperiode für jeden sichtbar (z.B. bei Fernsehübertragungen) und Kosten würden ebenfalls eingespart.
Mit freundlichen Grüßen
Sehr geehrter Herr Kleinelsen.
Immer wieder wird in den letzten Jahren nach Wahlen mit geringerer Beteiligung in der einen oder andere Variante die Frage nach der Verringerung der Mitglieder der Parlamente entsprechend der Zahl der weniger abgegebenen Stimmen aufgeworfen. Ich beantworte sie immer: Ich halte nichts davon. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung einer auf den ersten Blich vielleicht einleuchtenden Überlegung sind enorm und verfassungsgemäß kaum lösbar.
In Deutschland haben wir für den Bundestag und die meisten Länderparlamente bekanntlich ein Wahlsystem, nach dem die eine Hälfte der Abgeordneten in den Wahlkreisen direkt und die andere Hälfte über Landeslisten gewählt wird. Jeder Wähler und jede Wählerin haben deshalb zwei Stimmen. Mit der ersten Stimme wird der Kandidat oder die Kandidatin gewählt, die im Wahlkreis die meisten Stimmen erhält,und mit der zweiten Stimme eine Partei. Über die Größe der Fraktionen im Parlament entscheidet allein die Zweitstimme, denn entsprechend dem Anteil an Zweitstimmen wird die Zahl der auf jede Partei entfallende Zahl der Abgeordneten bestimmt. Dieses gemischte Wahlsystem hat sich bewährt. Andere Staaten wollen es übernehmen. Es ist schon nicht einfach, vor der Wahl die Gesamtzahl der Abgeordneten zu reduzieren. Denn die Wahlkreise müssen neu zusammengestellt und festgelegt werden. Das war in der Vergangenheit immer ein langer Prozeß, der mit Hauen und Stechen von den Parteien ausgetragen wurde. Die Zahl der mit der Zweitstimme zu Wählenden könnte dann einfacher verringert werden.
Aber nach der Wahl entsprechend der Wahlbeteiligung ist eine Änderung der Zahl der Wahlkreise kaum möglich. Wie soll das gehen? Nach der Wahl können die Wahlkreise nicht verringert und die Wahlkreise nicht neu zusammengesetzt werden. Die Wahlkreise mit der geringsten Wahlbeteiligung können auch nicht quasi bestraft und einfach aussortiert werden. Gewählte Abgeordnete kämen dann nicht ins Parlament, obwohl sie vielleicht sogar eine große absolute oder gar Zweidrittel-Mehrheit der Wahlstimmen erreicht haben. Das wäre mit der Verfassung kaum zu vereinbaren. Und der Vorschlag, die Zahl der direkt gewählten Abgeordneten wie bisher zu erhalten, aber die der über die Landesliste Einrückenden zu verringern, würde das ganze Wahlsystem durcheinanderbringen. Denn dann könnte die Größe der Fraktionen nicht mehr über die Zweitstimmen bestimmt werde. Wir kämen zu einem Mehrheitswahlsystem wie in England oder den USA mit Einschränkungen, das wir aber als weniger demokratisch bisher in Deutschland nicht wollten. Nein, eine "Bestrafung" der Wahlbevölkerung oder der Parteien mit weniger Abgeordneten im Parlament, weil sie sich nicht genügend Mühe gegeben haben, scheint mir nicht der richtige Weg, um die Wahlbeteiligung hoch zu halten. Es gibt bei uns auch ein Recht auf Wahlenthaltung und so die Unzufriedenheit mit der Politik zum Ausdruck zu bringen. Mehr Interesse an Wahlen und mehr Wahlbeteiligung erreichen wir besser durch mehr Glaubwürdigkeit von Politik und Politikern.
Mit freundlichem Gruß
Ströbele