Frage an Hans-Christian Ströbele von Christian M. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Geehrter Herr Ströbele
selbst nach der Lektüre Ihres "Programms" und div. "Kundgebungen" verschließt sich mir leider, wie Sie, aber auch Ihre Partei es sich vorstellen, Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen.
Durch die letzte/noch derzeitige Regierung ist der Arbeitnehmer und der Arbeitslose in schon nicht mehr hinnehmbarer Art und Weise benachteiligt worden, währenddessen die Reichen und die Industrie mit (Steuer-)Geschenken eingedeckt wurden.
Arbeitsplätze sind dadurch, zumindest in Deutschland, nicht geschaffen, sondern abgebaut worden.
Das Bruttoinlandsprodukt sinkt unaufhaltsam, da der hier lebende Mensch (Arbeiter, Angestellter, wie auch immer) kein Geld mehr hat, um die hier produzierten und viel zu teuer angebotenen Waren zu erstehen; dies zieht zwangsläufig erneut sinkende Arbeitnehmerzahlen nach sich.
Alle von Ihnen vorgeschlagenen Wege führen aber zu nicht mehr neuen, das leben finanzierbaren, Jobs; eher zu Nebentätigkeiten, zumindest von der Bezahlung her.
Dies sind aber garantiert NICHT die Jobs, die dieses Land braucht!
Vielmehr braucht dieses unsere Land Jobs, die es dem abhängig angestellten Arbeitnehmer ermöglichen zu leben, sich am gesellschaftlichen wie auch kulturellem Leben zu beteiligen, auch dem Konsum zu frönen.
Wie wollen Sie solche Jobs schaffen, resp. haben Sie überhaupt ein Interesse daran, dass es solche Jobs auch in der Zukunft noch geben wird, oder möchten Sie lieber wieder die Zustände vom Beginn der industriellen Revolution, wo der Arbeitnehmer mehr ein Sklave war ?
Ich bin gespannt auf Ihre Antwort - schließlich, immer daran denken :
Nur noch wenige Tage bis zur (Ab-)Wahl !
Mit freundlichen Grüßen
Christian Müller
Sehr geehrter Herr Müller,
vielen Dank für Ihre Frage an Herrn Ströbele. Er hat mich gebeten, Ihnen zu antworten.
Ich muss Ihnen leider zustimmen, dass sich nach der Lektüre des bündnisgrünen Wahlprogrammes dem Aussenstehenden nicht unbedingt erschließt, welche Antwort die Grünen auf die Arbeitslosigkeit haben. Dies ist ein Mangel der Darstellung - alle Fachpolitiker wollen mit Ihren Themen vertreten sein, so dass eine geschlossene Antwort auf die Kernfragen dieser Gesellschaft, der gravierenden Veränderungen und der ökonomischen Krise nicht in zusammengefasster und verständlicher Form gegeben wird. Man tut sich ausserdem schwer, bestimmte Fehler der bisherigen Politik laut einzugestehen, das macht man lieber leise. Dieser Mangel der Darstellung im Programm heißt aber keineswegs, dass die Grünen keine Antworten haben. Insbesondere Herr Ströbele hat klare Vorschläge eingebracht.
Wie Sie selbst ausführen, ist eine reine Niedrigsteuerpolitik kein Mittel, um viele Arbeitsplätze zu schaffen. Die Niedrigsteuerpolitik begünstigt vorhandene Sektoren, z.B. unsere exportorientierten Industriegütersektoren, das sind vor allem Automobilbau, Maschinenbau, Chemie, Elektro. Diese haben denn auch eine Steigerung von 49% gehabt, "wir sind Exportweltmeister" ist ein vielgenannte Schlagwort. Nur: neue Arbeitsplätze entstehen dort nicht. Die Exportindustriesektoren stehen in scharfen globalen Wettbewerb, um ihre Positionen zu behaupten, müssen sie ihre Produktivität laufend steigern, das heißt also Leute entlassen. Damit sinken aber die Einkommen und die Steueraufkommen fortlaufend in diesen Sektoren trotz positiver Umsatzentwicklungen. Wenn nun unsere Binnenkonjunktur und unsere öffentlichen Bereiche (Bildung, Wissenschaft, Kultur, Gesundheit etc.) von den klassischen Exportsektoren abhängigen, entsteht eine Spirale nach unten. Es ist daher kein Zufall, dass ausgerechnet die Exportweltmeister Deutschland und Japan in einer Deflation festsitzen. Daher muss die Dynamik der Binnenkonjunktur von dieser Abhängigkeit entkoppelt werden. Dies geht nicht mit Niedrigsteuerpolitik, weil diese die vorhandene negative Entwicklung noch bestärkt. Umgekehrtes ist notwendig: die Steuereinnahmen müssen stabilisiert werden, eine stärkere Umverteilung von oben nach unten muss realisiert werden, damit der Staat eine kohärente Politik für Stärkung der Binnensektoren machen kann. Neue Arbeitsplätze entstehen seit geraumer Zeit nur im Bereich der Dienstleistungen. Was früher Wertschöpfung in der Industrie war, zerfällt heute zu 2/3 auf Dienstleistungen, nur zu 1/3 auf Fertigung. Wer nicht einfach warten will, bis die Veränderung unserer Wirtschaft neue Dienstleistungsarbeitsplätze entstehen lässt, der muss jetzt einen Anschub geben. Dabei geht es bei Dienstleistungen keineswegs nur um sog. "personennahe", niedrig bezahlte Dienstleistung, sondern um die ganze Breite.
Herr Ströbele hat ein Investitionsprogramm in zweistelliger Milliardenhöhe gefordert, um in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Wissenschaft, Kultur, Pflege etc. einen Anschub zu geben. Jeder Lehrer, der eingestellt wird, trägt nicht nur zur Verbesserung der Bildung bei, sondern auch zur Stärkung des sozialen Zusammenhaltes und zur Ankurbelung der Binnenkonjunktur.
Über die Anschubinvestionen hinaus ist eine kohärente Politik in diesem Sinne erforderlich: Ein Wechsel des veralteten Investitionsbegriffes, der der öffentlichen Hand bisher nur Investitionen in Beton erlaubt und Investitionen in Menschen als konsumtiven Ausgaben fasst. Ein Wechsel bei der Kreditvergabe gegenüber mittelständischen Unternehmen. Dienstleistungsunternehmen verfügen nicht über große Produktionsapparate und Immobilien, daher ist die Gestellung dinglicher Sicherheiten etwa durch Immobilien, wie sie die Banken verlangen, in den meisten Fällen praktisch nicht möglich. Während weltweit das sog. microfinancing (ohne dingliche Sicherheiten) einen Siegeszug antritt, wird in Deutschland der neue Mittelstand durch das sog. Hausbankenprinzip abgewürgt - hier fordern wir einen klaren Wechsel. Eine Verbindung von öffentlichem Beschäftigungssektor mit den neuen Dienstleistungssektoren (ich führe die Einzelheiten wg. der Länge nicht aus) und eine Umstellung auf Steuerfinanzierung der sozialen Sicherung für niedrige Einkommen.
Ich kann hier nicht alles ausführen, klar ist aber, das eine solche zielgerichtete Politik auf Entfaltung der Binnenkonjunktur eine deutliche Veränderung in der Steuerpolitik erfordert: diese umfasst sowohl die Stabilisierung der Einnahmen durch Mindeststeuern bei Unternehmen, eine Belastung der großen Einkommen durch Spitzensteuersatz 45%, Novellierung der Erbschaftssteuer und Wiedereinführung einer verfassungskonformen Vermögensteuer. Zum letzteren hat Herr Ströbele gemäss dem Beschluss der bündnisgrünen Bundesdelegierten-Konferenz ein Konzept erarbeitet und vorgelegt (ich hatte die Gelegenheit, daran mitzuarbeiten).
Zusammengefasst:
klares Konzept ist da, nicht alles steht aber in dieser Klarheit im Programm.
Wenn Sie weitere Fragen haben, stehen wir gern zur Verfügung oder senden Ihnen Fachpapiere zu.
Mit freundlichen Grüssen
Dietmar Lingemann
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Kurt-Dietmar Lingemann
Wiss. Mitarbeiter MdB Ströbele