Frage an Hans-Christian Ströbele von Karolin M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Stroebele,
Ist es nicht so, dass der Fraktionsszwang im Bundestag das persönliche Gewissen der Abgeordneten buchstäblich vergewaltigt? Denken Sie nicht auch, dass diejenigen Abgeordneten, die bei der nächsten Wahl auf einen Listeplatz angewiesen sind häufig aus Angst um ihre politische Karriere dem Fraktionszwang folgen, weil sie vielleicht keinen sicheren Listenplatz bekommen werden, wenn sie gegen den Willen der Fraktionsführung stimmen? Häufig werden die Abgeordneten vom Fraktionsvorsitzenden vor wichtigen Abstimmungen regelrecht "eingeschworen", es werden Probeabstimmungen durchgeführt und Druck ausgeübt. Das alles ist ja bekannt.
Finden Sie sowas in Ordnung? Sollte man die Fraktionen nicht einfach abschaffen? Sollten die Abgeordneten nicht ohne Ansehen ihres Parteibuches direkt vom Volk gewählt werden?
Wir sehen ja bei medizinisch-ethischen Debatten z.B. zur Patientenverfügung, dass die Abgeordeten über Fraktionsgrenzen hinweg in der Lage sind, zusammenzuarbeiten und Mehrheiten zu organisieren. Die Fraktionen sind im Prinzip überflüssig, die unterdrücken das freie Gewissen des einzelnen Parlamentariers.
Ich verweise nur mal auf die SPD-Abgeordnete im Hessischen Landtag, Dagmar Metzger, die aus Gewissensgründen die Absprachen mit der Linskpartei nicht mitgemacht hat. Es wude ein extremer Druck auf sie aufgebaut, die Fraktion wollte sie zur Aufgabe ihres Mandats drängen, Frau Metzger bezeichnete die Zustände nach ihrer Gewissensentscheidung als "Spießrutenlauf". http://de.wikipedia.org/wiki/Dagmar_Metzger#Opposition_gegen_eine_Duldung_durch_Linkspartei
Auch die SPD-Abgeordnete Everts machte aus Gewissensgründen die Absprache mit der Linkpartei in Hessen nicht mit. Sie bekam dafür von ihrer Partei bei der Neuwahl keinen Listenplatz mehr und verlor ihr Mandat. http://de.wikipedia.org/wiki/Carmen_Everts
Das sind keine Einzelfälle, dieses Vorgehen hat Methode.
Sollte man diese Parteiendiktatur nicht abschaffen?
Mit freundlichen Grüßen
Karolin Maier
Sehr geehrte Frau Maier.
Na ja, Fraktionszwang im Bundestag gleich eine Vergewaltigung des Gewissens und "Parteiendiktatur" sind mir denn doch etwas zu gewaltige Worte. Sicher, es wird Druck auf die Abgeordneten ausgeübt und zuweilen unzulässiger, zu starker Druck. Aber auch zum Nachgeben auf solchen Druck hin gehören immer zwei: einer der den Druck ausübt und einer der diesem nachgibt. Das heißt, wer so abhängig ist vom Abgeordnetenmandat, daß er in Angst und Schrecken verfällt, wenn er damit bedroht wird, nicht wieder aufgestellt zu werden, und dafür sogar sein Gewissen zu ignorien bereit ist, der sollte ohnehin überdenken, ob er nicht falsch am Platz ist. Ganz ohne "Einschwören" auf gemeinsames Fraktionsabstimmen und Probeabstimmungen geht es auch nicht, denn sonst fehlt für gemeinsames Handeln bei knappen Mehrheiten die Grundlage. Aber letztlich muß selbstverständlich eine Entscheidung aller Abgeordneten nach ihrem Gewissen respektiert und akzeptiert werden. So steht es in der Verfassung und so ist es auch richtig.
Recht gebe ich Ihnen aber mit Ihrem Hinweis, daß Abstimmungen nicht immer nur entlang der Fraktionsgrenzen oder entlang von Koalition und Oppositon erfolgen sollten. Die Abstimmungen über sog. Gruppenanträge wie bei der Patientenverfügung oder der Forschung an embryonalen Stammzellen sind geradezu Sternstunden des Parlaments. Übrigens nicht nur die Abstimmungen, sondern schon die Debatten. Solches sollte viel häufiger möglich sein und praktiziert werden. Ich finde den Gedanken faszinierend, daß sich zu viel mehr Gesetzesvorlagen die, die diese ins Parlament einbringen, jeweils durch überzeugende Argumente bei Koalition und Opposition eine Mehrheit schaffen müssen. Deshalb stimme ich manchmal selbst, wenn es gar nicht um Gewissensfragen geht, auch ohne Fraktionsvereinbarungen für Anträge anderer Fraktionen, obwohl sich das eigenlich nicht gehört. Und die Vorstellung der Einsetzung einer Minderheitsregierung, die für ihre Gesetzesvorlagen nicht ohne weiteres eine Mehrheit im Parlament hat, sondern sich diese suchen muß, hat für mich gar nichts Fürchterliches, sondern beflügelt die Phantasie und läßt auf spannende Debatten hoffen. Wir sollten es mal ausprobieren.
Also Fraktionen abschaffen, halte ich nicht für richtig. Sie können sinnvolle, gar nötige Organisations- und Arbeitszusammenhänge sein. Aber Fraktionen ohne unzulässigen Zwang und mit viel parlamentarischer Diskussions- und Entscheidungsfreiheit für die Abgeordneten.
Mit freundlichem Gruß
Ströbele