Frage an Halina Wawzyniak von Tobias S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Hallo,
meine Frage geht eher um die ehemalige DDR bzw. die Wiedervereinigung - war mir nicht sicher, welchem Thema ich das zuordnen sollte.
Ich hatte mir 2 Freunden, beide aus der ehemaligen DDR (Berlin), ein interessantes Gespräch:
Sie meinten, dass es viele "soziale Errungenschaften" wie Ganztagesschule / Hort, Mensa, Pfand, Gleichberechtigung der Frauen, (und noch ein paar andere) schon in der DDR gab. Diese werden jetzt wieder neu-diskutiert und wieder eingeführt.
Insbesonderen haben sie sich aber darüber aufgeregt, dass es zu lange dauert, diese einzuführen, und es Debatten / Diskussionen gibt, obwohl es ja schon bewiesen wurde, dass Sie funktionieren.
Als "Wessi"-Kind, dass Anfang 1980 geboren wurde, musste ich eher zugehören und konnte weniger mitreden - daher hier ein paar Fragen:
Sind diese Errungenschaften wirklich "alleine" der ehemaligen DDR zuzuordnen?
In meiner Schule im Westen gab es z.b. auch eine Mensa und Hausaufgabenbetreuung. Aber war die DDR das erste Land, dass dieses System flächendeckend einsetzte?
Falls ja, wieso dauern die politischen Debatten so lange bzw. werden wieder neu diskutiert? Wie ist der politische Entscheidungsweg, um zu analysieren, was aus der ehemaligen DDR übernommen werden kann und was nicht? Welche Gremien befassen sich damit?
Vielen Dank!
Mit freundlichen Grüßen,
Tobias
Lieber Tobias!
Sicher wurde das Konzept der Ganztagsschule bzw. der Hortbetreuung nicht in der DDR erfunden. Solche Konzepte haben Pädagogen in der ganzen Welt schon spätestens seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts formuliert. Doch die DDR war eines der ersten Länder, die dieses Konzept auch umgesetzt hat. Ausschlaggebend war dabei vor dem Hintergrund des Zieles, möglichst viele Frauen in das Berufsleben zu integrieren, die Frage der Betreuung und Versorgung der Kinder in der Zeit, in der Frauen ihrer Arbeit nachgingen. Genauso verhält es sich mit der flächendeckenden Betreuung von Kindern in Kindertagesstätten. Kritisch betrachtet könnte man sagen, dass die Einbeziehung möglichst vieler Frauen in das Berufsleben in der DDR und die damit einhergehenden Betreuungsangebote für Kinder eine Notwendigkeit waren, um die DDR vor allem während der 50er Jahre und 60er Jahre wirtschaftlich am Laufen zu halten. Auch wurde dieses System reichlich genutzt, um den Staat an der Erziehung "seiner" Kinder zu beteiligen. Auf der anderen Seite waren selbstverständlich auch das Menschenbild und die Weltsicht der Politik der DDR dafür verantwortlich, dass genau diese Systeme gewählt wurden, um Kinder zu betreuen. Man hatte das Ideal, dass der Mensch von Anfang an und umfassend gebildet werden sollte, weshalb frühkindliche Bildung in den Kitas der DDR sehr umfassend betrieben wurde und die so genannte freizeitliche Bildung in der Schule und im Hort durch verschiedene Arbeitsgemeinschaften etc. gesichert wurde.
Natürlich gab es auch in Schulen der BRD eine Mensa und Hausaufgabenbetreuung. Im Unterschied dazu war aber die Teilnahme an der Schulspeisung in der DDR in der Regel Pflicht (was geschmacklich nicht immer angenehm war) und das Essen war derartig stark subventioniert, dass es sich auch jeder leisten konnte. In der BRD ist und war Hausaufgabenbetreuung Sache der Schule. Wenn diese nicht sichergestellt werden konnte und kann, fand und findet diese meist nicht statt, es sei denn auf ehrenamtlicher Basis. Die Ganztagsbetreuung der DDR umfasste dagegen meist (nicht immer) ein weitaus größeres Spektrum, wie z.B. Musikunterricht oder Sportgruppen. Sie wurde aber auch oft zur ideologischen Erziehung der Schüler genutzt, z.B. durch die Pionierorganisation.
Zusammenfassend würde ich aus heutiger Sicht sagen, dass man unbedingt aus den positiven Seiten des Bildungssystems der DDR lernen sollte, aber auch die negativen Seiten dabei nicht ausgeblendet werden dürfen. Ganztagsschulen haben positive Effekte auf die Chancengleichheit der Kinder in der Bildung, insbesondere bei einem bereiten Ganztagsangebot, dass auf die Interessen der Schüler eingeht und diese auch weckt. Ich würde die Gestaltung dieses Angebotes aber nur den Schulen und nie wieder dem Staat überlassen, denn nur so können sich frei entfaltete und kritische Persönlichkeiten herausbilden. Es muss unbedingt ein kostenfreies Mittagessen für alle Kinder angestrebt werden, aber die Teilnahme daran sollte nicht zur Pflicht erhoben werden.
DIE LINKE. strebt ein Schulsystem an, in alle Kinder möglichst lange gemeinsam von- und miteinander lernen. Dieses Lernen soll auf die persönlichen Interessen und Fähigkeiten der Schüler abgestimmt sein und diese zu frei entfalteten und kritischen Persönlichkeiten entwickeln. Dabei sollen die Chancen der Schüler aus Elternhäusern mit einem geringen Einkommen genauso gut sein, wie die der Schüler aus gut verdienenden Elternhäuser. Wir glauben, dass dazu das Mehrgliedrige Schulsystem zugunsten einer Gemeinschaftschule, in der die Schüler von der ersten Klasse an bis zum ersten Schulabschluss zusammen lernen können, um zu frühe Entscheidungen für den Lebensweg zu vermeiden. Erst danach soll die Entscheidung vom Schüler (nicht von den Eltern) gefällt werden können, ob er einen weiterführenden Abschluss anstrebt oder nicht. Auf jeden Fall muss das Schulsystem so schnell wie möglich durchlässiger gestaltet werden, um falsche Entscheidungen nicht zu zementieren.
Gerade Debatten um das Bildungssystem sind sehr langwierige Debatten. Denn für das Bildungssystem sind die Bundesländer zuständig. Dort werden alle relevanten Entscheidungen zum Bildungssystem getroffen. Jedes Bundesland entscheidet für sich, welcher Weg für sich in der Bildung der richtige wäre. Vor dem Jahr 2006 konnte auch noch der Bundestag oder die Bundesregierung in gewissen Fragen Entscheidungen fällen. Das Ganztagsschulprogramm fällt zum Beispiel in diese Zeit. Zurzeit besteht jedoch das so genannte "Kooperationsverbot" in der Bildungspolitik. Dieses legt fest, dass der Bund sich in die Bildungspolitik der Länder nicht mehr einmischen darf, weder finanziell noch anderweitig. Wir als DIE LINKE. meinen, dass dieses Kooperationsverbot dringend aufgehoben werden muss und der Bund dazu verpflichtet werden muss, sich zumindest an der Finanzierung des Bildungssystems zu beteiligen. Auch innerhalb der Regierungskoalition wird derzeit dazu gestritten. Wir erwarten dazu noch in diesem Jahr erste Ergebnisse und werden diese kritisch begleiten.
Ganz allgemein gibt es kein richtiges Gremium, dass darüber entscheidet, welche Dinge aus der DDR übernommen werden sollen und welche nicht. Dies wird im der allgemeinen gesellschaftliche Diskurs erörtert werden, und so etwas dauert natürlich. Im politischen Raum ist es heute eher ein Reizwort, wenn man Dinge vorschlägt, weil sie in der DDR gut gewesen sein sollen. Dies dürfte auch der Grund sein, weshalb viele Dinge wieder "neu" diskutiert" werden.
Mit freundliche Grüßen
Halina Wawzyniak