Frage an Gustav Herzog von Volker U. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Abgeordneter,
der Ausgabe "Die Rheinpfalz" vom 8.12.19 konnte ich auf deren Titelseite dem Beitrag "Bürgergeld satt Hartz IV" entnehmen, dass die SPD auf ihrem Bundesparteitag zu der Erkenntnis gelangte, dass man Hartz IV endlich überwinden muß. Meinen ausdrücklichen Glückwunsch dazu! Aber gestatten Sie mir die Frage warum es 15 Jahre gedauert hat, bevor die SPD zu dieser Thematik endlich reagiert hat? Vielen Dank für Ihre Antwort. Ich darf Ihnen und Ihrer Familie eine besinnliche Adventszeit und friedvolle Weihnachten wünschen.
Mit freundlichen Grüßen
V. U.
Sehr geehrter Herr Ultes,
vielen Dank für Ihre gute Frage und auch Ihnen die besten Wünsche für ein friedvolles Weihnachtsfest und ein gutes Jahr 2020.
Ihre Frage zur Dauer von 15 Jahren lässt sich aus meiner Sicht wie folgt erläutern:
Bei der damaligen (2004/2005)) Ausgestaltung der „Agenda 2010“, insbesondere der Hartz-IV-Gesetzgebung standen die Modernisierung unserer Volkswirtschaft und vor allem der Kampf gegen die damals bestehende (Massen)Arbeitslosigkeit von fast 5 Mio. Arbeitslosen im Vordergrund. Dass diese untragbar hohe damalige Zahl nach den Agenda-Reformen in dem Zeitraum vom Inkrafttreten (2005) bis 2008 um 1,6 Mio. sank, ist nach der Analyse des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) (welches unabhängig von der Wirtschaft oder einzelnen Parteien ist) natürlich nicht ausschließlich, aber auch den Agenda-Reformen zu verdanken. Zu der aktuellen Studie des IAB empfehle ich Ihnen ein interessantes Interview mit einem der Autoren auf SPON: https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/hartz-reformen-erst-segen-heute-fluch-oekonom-enzo-weber-im-interview-a-1300144.html
Öffentlich diskutiert und kritisiert werden immer nur bestimmte Teile der Agenda, bzw. der „Hartz IV“-Gesetzgebung wie beispielsweise die Sanktionen und der im Gegensatz zu früher nicht mehr einkommensbezogene Satz von ALG II auf dem Niveau der früheren Sozialhilfe.
Selten oder nie werden hingegen die (auch und gerade für die Betroffenen!) positiven Strukturreformen innerhalb der Agenda 2010 bzw. Hartz IV genannt. Deshalb ist es mir wichtig, einige davon nochmal kurz aufzuzeigen:
- Umbau der alten Struktur einer Arbeitslosenversicherung hin zur Agentur für Arbeit
- Abschaffung der Sozialhilfe für Erwerbsfähige, da diese keinerlei Förderungs-, Vermittlungs- und Qualifikationsangebote beinhalte
- Besondere Förderschwerpunkte für Langzeitarbeitslose und von der Langzeitarbeitslosigkeit Bedrohte
- Ermöglichung bzw. Ausbau deutschlandweiter Ganztagsbetreuung in Schulen durch den Bund. 4 Mrd. Euro aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen 2004 wurden zum Start dafür bereitgestellt. Was das mit der Agenda 2010 zu tun hat? Die Regierung Schröder hat damit einerseits die Bildungschancen der Schüler*innen vergrößert (Arbeitsmarktvorteil!) und andererseits die Chancen von Eltern (insbesondere Müttern) in Teilzeit oder in Arbeitslosigkeit auf Rückkehr in (Vollzeit-)Beschäftigung erhöht!
Angelegt war die Agenda 2010 darauf, Maßnahmen zu schaffen und gebündelt umzusetzen, die bis 2010 den 2004er-Abwärtstrend auf dem Arbeitsmarkt stoppen, umkehren und dann auf einem guten Niveau stabilisieren sollten. Dann kam nach den oben beschriebenen Erfolgen (Absenkung der Arbeitslosenzahl um 1,6 Mio!) die Wirtschafts- und Finanzkrise 2006-2008. Deutschland und die Beschäftigten in unserem Land haben diese Krise auch in den Folgejahren besser als die meisten anderen Wirtschaftsnationen überstanden- Dank einer hervorragenden Krisenpolitik des damaligen Arbeitsministers Olaf Scholz und auch ein Stück weit Dank der erfolgreichen Strukturänderungen, die Teile der Agenda 2010 waren. Auch zu diesem Thema äußert sich der Autor der IAB-Studie in dem o. g. Spiegel-Interview.
Aber die Erschütterungen der Krise 2008 und vor allem der Regierungswechsel 2009 weg von der Großen Koalition hin zu einer Schwarz-Gelben Bundesregierung schoben das Projekt einer Überprüfung und ggf. Neujustierung der Agenda im Jahr 2010 für 4 Jahre auf Eis.
Mit der Bundestagswahl 2013 kam die SPD wieder als Juniorpartner in die Regierung. Seitdem wurden an verschiedenen Stellschrauben bei der Hartz IV-Gesetzgebung Reformen vollzogen. Dazu hatte ich Ihnen auch auf dieser Plattform zuletzt im März 2018 geantwortet. Eine große Revision des ALG I und ALG II-Systems stand aber nicht im Koalitionsvertrag und war damals für uns als SPD auch nicht vordringlich. Dafür erinnere ich an dieser Stelle gerne an folgende Groß-Reformen, die Andrea Nahles zwischen 2013 und 2017 als Bundesministerin für Arbeit und Soziales gegen die Union durchgefochten hat:
- Einführung des Gesetzlichen Mindestlohnes
- Reform von Leiharbeit und Werkverträgen
- Rentenreform inkl. der s. g. „Rente mit 63“
- Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“
Im Jahr 2018 nun hat Andrea Nahles als Parteivorsitzende der SPD den inhaltlichen Erneuerungsauftrag der Partei angenommen und bei der Umsetzung im engen Dialog mit der Basis ein Sozialstaatskonzept zur Überwindung des bisherigen Hartz IV-Systems erstellt. Neben dem inzwischen mehrheitlichen Wunsch der Parteimitglieder, Teile der Agenda-Politik als SPD nun hinter uns zu lassen, spielten für Andrea Nahles natürlich auch die stattgefundenen Veränderungen in der Lebens- und Arbeitswelt seit 2004 eine große Rolle bei dem Erarbeiten des neuen Konzeptes:
Wir haben es heute im Vergleich zu 2004/2005 mit mehr als einer Halbierung der Arbeitslosenzahlen (von 4,86 auf 2,27 Mio. im jeweiligen Jahresdurchschnitt) zu tun. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich im Zeitraum von 2007 bis heute von 1,73 Mio. auf 0,73 Mio. reduziert. Der Fokus der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik muss jetzt also im Vergleich zu 2005 stärker als bereits in den letzten Jahren auf folgende vier zentralen Herausforderungen gelegt werden: Fachkräftemangel, Qualifizierung und Beschäftigung älterer Arbeitnehmer*innen in einer älter werdenden Gesellschaft, Wandel der Arbeitswelt aufgrund der Digitalisierung und die weitere Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Die sozialen Sicherungssysteme wie Hartz IV können und müssen im Zuge dessen ebenfalls angepackt werden und ich freue mich mit Ihnen, dass dies auf der Grundlage des Konzeptes von Andrea Nahles nun seitens der SPD konkretisiert wird – so sehr ich aber auch bedaure, dass Andrea Nahles als Architektin nun nicht mehr an der Umsetzung beteiligt sein wird.
Mit freundlichen Grüßen
Gustav Herzog