Frage an Guntram Schneider von Ulrich W. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Schneider,
in der Sendung „Da haben wir was angerichtet!“ bei West.art Talk vom 02. Juni 2013 haben Sie mich in vielerlei Hinsicht nachdenklich gemacht.
[...]
Nachdem Frau Bettina Kenter, die übrigens für viele Mitbürger in diesem Land sprach, die Aussage tätigte, dass die Sanktionen beim ALG II verfassungswidrig sein, reagierten Sie wie folgt:
„Dann klagen Sie dagegen!“
Diese vier Worte werfen Fragen auf. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir als einfachen Bürger auf die Sprünge helfen könnten und erklären, wie das Prozedere bei einer Verfassungsklage ist. Wie wird diese eingereicht und vor allem, das ist die wichtigste Frage, finanziert? Haben Hartz IV-Empfänger die Möglichkeit, eine Verfassungsklage einzureichen und auch zu finanzieren? Gibt es bereits Organisationen, welche entsprechende Klage vorbereitet haben? Sie als Sozialminister haben doch bestimmt Informationen.
Darüber hinaus sei die Frage gestellt, wie ihre Vorstellung bei der Verabschiedung von Gesetzen für Arbeit und Soziales, dessen NRW-Minister Sie ja sind, ist. Werden erst Gesetze geschaffen, damit Bürger dann mit dem Satz konfrontiert werden: „Dann klagen Sie doch!“? Unabhängig davon, dass die Agenda 2010 in Berlin verabschiedet wurde, ist Ihre Einstellung sehr bemerkenswert.
Über eine aussagefähige Antwort Ihrerseits würde ich mich sehr freuen. Ich möchte Sie auch darüber in Kenntnis setzen, dass ich diese Zeilen öffentlich handhaben werde, davon ausgehend, dass die Bürger in NRW und auch darüber hinaus, an den Informationen partizipieren können.
Mit freundlichen Grüßen
Ulrich Wockelmann
Sehr geehrter Herr Wockelmann,
vielen Dank für Ihre Anfrage hier auf Abgeordnetenwatch.
Als Bezieher von staatlichen Transferleistungen, zu denen das Arbeitslosengeld II gehört, haben Sie das Recht, eine Entscheidung zuständiger Behörden vor dem Sozialgericht zu beanstanden. Dies habe ich der Diskussionspartnerin Bettina Kenter in der West-Art-Sendung sagen wollen. Kein Leistungsempfänger muss damit leben, dass ihm eine Leistung zu Unrecht nicht anerkannt wird oder eine Sanktion zu Unrecht auferlegt wird. Wenn das Sozialgericht es auch so sieht, dass eine Leistung zu Unrecht verweigert wird oder eine Sanktion zu Unrecht ausgesprochen wird, ist die zuständige Behörde - im Fall des ALGII das Jobcenter - dazu verpflichtet, seine Entscheidung zu revidieren. Eine Klage vor dem Sozialgericht ist im Gegensatz zu anderen Gerichtsverfahren kostenlos. Wer Leistungsempfänger ist oder nur ein geringes Einkommen besitzt, hat zudem Anspruch auf einen Rechtsberatungsschein, mit dem er kostenlose Beratung und Betreuung durch einen Anwalt erhält. Mit einem Antrag auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung vor dem Sozialgericht kann zudem die Sanktion oder die Einstellung einer Leistungserbringung nach hinten geschoben werden bis das Sozialgericht ein Urteil gefällt hat. Die Sozialberatungen von Wohlfahrtsverbänden, Arbeitslosenzentren und Gewerkschaften stehen Empfängern von ALGII in solchen Fällen mit Rat zur Seite.
Eine Verfassungsklage ist demnach nicht erforderlich, um die einem zustehenden Rechte und Leistungen einzuklagen.
Ich sehe die Sanktionspraxis in den Jobcentern übrigens ebenfalls kritisch. Zurzeit lasse ich durch das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik eine wissenschaftliche Untersuchung erstellen, die aufzeigen soll, welche Auswirkungen die Leistungskürzungen auf die Lebenslagen der Leistungsbezieher haben. In meinen Augen müssen Sanktionsregelungen dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Besonders die Sanktionen in Höhe von 100 % der Leistungen bei wiederholten Pflichtverletzungen von unter 25-Jährigen sind unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Außerdem kann man bei allein lebenden Hilfsbedürftigen den Entzug der Leistungen für Unterkunft und Heizung für drei Monate mit einer Kündigung der Wohnung gleichsetzen. Hier sind demnach Existenzen fundamental bedroht, was nicht sein darf. Ziel muss es sein, die Sanktionsregelungen klarer als die jetzigen Gesetzesbestimmungen zu strukturieren. Insbesondere muss die restriktive Behandlung von jungen Menschen unter 25 nach der derzeitigen Rechtslage wegfallen. Die Arbeits- und Sozialministerkonferenz hat eine Arbeitsgemeinschaft zur Rechtsvereinfachung im SGB II eingerichtet, die auch die Sanktionsregelungen in diesem Gesetz thematisieren wird.
Die Landesregierung wird sich für eine Änderung der einschlägigen Paragrafen im SGB II einsetzen, damit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit wieder Rechnung getragen wird. Natürlich müssen Gesetze immer mit Sanktionen verbunden sein, da man Gesetze auch durchsetzen können muss. Allerdings müssen diese Sanktionen nachvollziehbar sein und dürfen das Rechtsverständnis der Betroffenen nicht verletzen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Hier gilt es auch, Einsicht in die Notwendigkeit zu schaffen.
Mit freundlichen Grüßen
Guntram Schneider