Frage an Grietje Staffelt von Anika R. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie
Sehr geehrte Frau Staffelt,
die Probleme im deutschen Bildungssystem sind hinlänglich bekannt: Die Zahl der Akademiker steigt zu langsam, es fehlen Ingenieure, für Bildung steht zu wenig Geld bereit und die Durchlässigkeit des Systems ist gering. Kurzum: Das Bildungssystem in Deutschland begünstigt wenige und benachteiligt viele.
Meine Fragen an Sie lauten daher:
1) Was möchten Sie in Deutschland – speziell bei der Akademiker-Ausbildung – ändern, damit die Zeichen auf Innovation statt auf Stillstand stehen? (Bitte lassen Sie Ihre parteipolitische Brille im Etui!)
2) Wann und in welcher Form hatten Sie in der Vergangenheit bereits Gelegenheit, diese Ziele voran zu bringen?
Für die Beantwortung meiner Fragen möchte ich mich vorab bedanken und verbleibe
Mit freundlichen Grüßen
Anika Rekers
Sehr geehrte Frau Rekers,
besten Dank für Ihre Frage, die ich gern beantworten werde. Mit der parteipolitischen Brille aber ist das so eine Sache. Ich bin nun mal Grüne und habe lange Zeit die Grundlinien grüner Bildungspolitik, u.a. als bildungs- und hochschulpolitische Sprecherin im Bundestag, mitgestaltet. Insofern wird sich meine Antwort nicht sehr von dem unterscheiden, was meine Partei bildungspolitisch für richtig hält.
Zu Ihrer ersten Frage. Hier gilt es an einer ganzen Reihe von politischen Rädern zu drehen. Kurzfristig ist der akute Fachkräftemangel (der von den Konzernen selbst verschuldet ist, die zugunsten schnellen Profits viel zu wenig ausgebildet haben) nur durch Fort- und Weiterbildung und Anwerbung ausländischer Fachkräfte zu lindern. Hier kann der Staat die Rahmenbedingungen gestalten, handeln müssen die Unternehmen selbst.
Um mittelfristig Innovationsfähigkeit zu fördern, müssen wir viel mehr jungen Menschen ein Studium ermöglichen. Studiengebühren sind dabei Gift, wie Studien zeigen: Gerade AbiturientInnen aus Familien, in denen zuvor niemand studiert hat, lassen sich durch Gebühren vom Studieren abschrecken. Die rund 700.000 jungen Menschen, die in den nächsten Jahren an die Hochschulen strömen könnten, brauchen zudem ausreichend Studienplätze. In den letzten Jahren aber haben manche Bundesländer sogar Studienplätze abgebaut. Dieser Trend muss umgekehrt werden. Zudem muss die bürokratische Umsetzung der Studienreform (BA/MA), die teilweise ihre eigenen Ziele pervertiert, dringend nachgebessert werden.
Gleichzeitig fehlt uns wissenschaftlicher Nachwuchs. Immer weniger Menschen streben eine Karriere in Forschung und Lehre an. Das liegt u.a. an oft familienfeindlichen und prekären Arbeitsbedingungen. Als hochschulpolitische Sprecherin habe ich hier u.a. eine Entschärfung der Befristungsregeln in der Wissenschaft erreicht.
Um langfristig für die Zukunft zu sorgen, müssen wir schon in Kindergärten und Schulen Innovationsförderung betreiben und endlich alle Talente fördern. In Deutschland ist die Chance für ein Arbeiter- oder Migrantenkind, das Abitur zu erreichen, beschämend gering. Derzeit studieren nur 17 % der Arbeiterkinder, aber 83 % der Akademiker-Kinder. Talente liegen brach. Die Grünen in den Landtagen drängen völlig zu Recht auf Qualitäts- und Bildungsoffensiven. „Bildung statt Beton“ heißt die Devise. Milliarden von Euro ließen sich z.B. aus zweifelhaften Straßenbauprojekten in den Bildungsetat umschichten.
Dabei darf mehr Geld mehr Qualität zur Folge haben. Das Schulsystem in Deutschland muss in Inhalt und Struktur grundlegend reformiert werden. Wir brauchen flächendeckend Ganztagsschulen. Wir brauchen selbstständige Schulen, die sich an ihren Erfolg messen lassen, statt an der Einhaltung von Lehrplänen, und wir müssen das gegliederte Schulsystem durch längeres gemeinsames Lernen, Schülerorientierung und individuelle Lernförderung ersetzen.
‚Innovation’ muss (u.a.) Inhalt und Struktur schulischen Lernens bestimmen. SchülerInnen sollen möglichst selbst forschen und in Projekten lernen, statt fast nur Frontalunterricht zu konsumieren. Nur so werden wir meiner Überzeugung nach Innovationsfreude wecken – und zwar, das ist entscheidend, endlich unabhängig von der sozialen Herkunft. Hier liegen ungenutzte Potentiale und Chancen für die einzelnen und für die Gesellschaft gleichermaßen.
Das sind nur einige der wichtigsten bildungspolitischen Baustellen, aus denen an meiner Sicht gearbeitet werden muss. Damit hoffe ich aber, Ihnen einen Einblick in die Schwerpunkte grüner Bildungspolitik gegeben zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Grietje Staffelt