Frage an Gabriele Hiller-Ohm von Sabine B. bezüglich Soziale Sicherung
Guten Tag Frau Hiller-Ohm,
aus Ihrem Besuch einer Veranstaltung Anfang Februar in Lübeck, bei der es u.a. um die Belange von contergangeschädigten Menschen ging, schließe ich, dass Ihnen das Schicksal dieser Menschen am Herzen liegt + deshalb wende ich mich an Sie.
Im 3. SGB IX steht:
Unabhängig von SGB V gewährt das SGB IX Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe für
Menschen mit Behinderungen. Dies sind insbesondere Leistungen, die
- zur medizinischen Rehabilitation notwendig sind
- zur Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft notwendig sind
- sowie unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen.
Wie kann es dann sein, dass die Regierung zulässt, dass mit der, in der Regel behinderungsbedingten, Arbeitsunfähigkeit Conterganopfern die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft dadurch eingeschränkt wird, dass die Kosten für einen behinderungsgerechten Umbau eines Autos bei Arbeitslosigkeit nicht übernommen werden?
Finden Sie es richtig, dass viele Politiker(innen) bei den durchaus berechtigten Forderungen der Conterganopfer, die Sie z.B. unter http://www.i-c-t-a.org nachlesen können, immer wieder auf eine „nicht außer Acht zu lassende Gleichbehandlung aller Behinderten“ hinweisen und damit, wie ich finde, öffentlich „Stimmung“ gegen die Contergangeschädigten machen?
Finden Sie nicht auch, dass es dringend nötig ist, den, durch die damalige Entrechtung der Opfer, bis heute fortdauernden, Conterganskandal und den damaligen Prozess zu prüfen?
Finden Sie nicht auch, dass es nicht sein kann/darf, die Conterganopfer mit anderen Behinderten "in einen Topf zu werfen“, da den Contergangeschädigten als, meiner Einschätzung nach, Opfern eines Verbrechens besondere Fürsorge und eine, ALLE Nachteile ausgleichende, umfassende Unterstützung für ein selbstbestimmtes, sorgenfreies Leben zustehen sollte?
Im Voraus besten Dank für eine konkrete Antwort ohne Allgemeinplätze und Floskeln über „Respekt vor Lebensleistung“ etc.
mit freundlichen Grüßen,
Sabine Bentler
Sehr geehrte Frau Bentler,
erst das Erinnern an 50 Jahre Contergan Ende 2007 hat das Thema Contergan wieder in das Bewusstsein auch der politischen Öffentlichkeit geholt. Dies liegt bestimmt auch an der Tatsache, dass Contergan-Geschädigte sich, trotz ihrer teilweise sehr schweren Behinderung, ihren Platz im Berufs- und Privatleben erkämpft haben. Sie haben von der Öffentlichkeit relativ unbemerkt ihr Leben gemeistert.
Die Berichterstattung hat jedoch auch gezeigt, wie schwer das tägliche Leben von Contergan-Geschädigten zunehmend wird. Contergangeschädigte leiden heute an schmerzhaften Spätfolgen, die durch jahrelange Fehlbelastung von Wirbelsäule, Gelenken, Muskulatur, aber auch durch die Überbeanspruchung von Zähnen entstanden sind – Spätfolgen, die bei der Höhe der Entschädigungszahlungen im Jahr 1971 so nicht vorhersehbar waren. Die körperlichen Beeinträchtigungen und Schmerzzustände haben zudem erhebliche negative psychische Belastungen zur Folge. Bei Berufstätigen führt das häufig zur Frühverrentung und daraus resultierend zu Einbußen für die Altersversorgung und die gesellschaftliche Teilhabe.
Die Bundesregierung hat auf diese neuen Herausforderungen reagiert. Seit Ende 2007 steht die Bundesregierung in einem engen Dialog mit den Betroffenen, der Firma Grünenthal und der Contergan-Stiftung für behinderte Menschen. Diese Gespräche haben erste Erfolge für Contergan-Geschädigte gezeigt: So wurden im vergangenen Jahr die Entschädigungsleistungen nicht nur um die ursprünglich vorgesehenen fünf Prozent erhöht, sondern verdoppelt. Seit dem 1. Juli 2008 beträgt der Höchstsatz 1.090 Euro – und nicht mehr wie bis dahin 545 Euro. Das bedeutet für die am schwersten Geschädigten zusätzliche Leistungen in Höhe von 6.540 Euro jährlich. Außerdem wurde geregelt, dass die Entschädigungsleistung nicht auf andere Zahlungen, wie zum Beispiel Erwerbsminderungsrenten, SGB II-Zahlungen oder Sozialgeld angerechnet wird.
Durch die Verdoppelung bringt der Bund künftig jährlich 31 Millionen Euro allein für die Entschädigungsleistungen auf. Insgesamt hat der Bund hierfür in den Jahren 1972 bis 2007 437,84 Millionen Euro bezahlt. Daneben stehen den Betroffenen selbstverständlich Leistungen aus dem SGB V (Krankenkassen), SGB IX (Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe), SGB XI (Pflegeversicherung), SGB XII (Sozialleistungen), SGB II (Leistungen im Falle von Arbeitslosigkeit), SGB VI (Erwerbsminderungsrenten) zu.
Zur Verbesserung der Lebenssituation von Contergan-Geschädigten ist es zudem von besonderer Bedeutung, Defizite in der Versorgungssituation zu vermeiden. Daher hat das Bundesministerium für Gesundheit gemeinsam mit verschiedenen Organisationen des Gesundheitswesens, der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten, der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nach Lösungen gesucht, wie die Versorgung der Betroffenen verbessert werden kann. In den Gesprächen haben sich die Beteiligten auf Hinweise zur Verordnung und Bewilligung von Heil- und Hilfsmitteln, die Übernahme von Fahrtkosten sowie notwendig Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen geeinigt.
Außerdem hat die Bundesregierung den Geschädigten Anfang dieses Jahres zu ihrem Anrecht auf einen Behindertenparkplatz verholfen. Auf Bundesebene – und ganz aktuell in Schleswig-Holstein – setzt sich die SPD für eine verbesserte Teilhabe von Menschen mit Behinderung ein. Den Antrag des Landesvorstands der SPD Schleswig-Holstein „Weiterentwicklung der Teilhabe behinderter Menschen“, der an diesem Wochenende auf dem Landesparteitag beschlossen werden soll, schicke ich Ihnen gesondert zu.
Derzeit wird auf Bundesebene darüber hinaus ein Gesetzentwurf zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes erarbeitet. Das Gesetz soll unter anderem regeln, dass Contergan-Geschädigte zukünftig Sonderzahlungen erhalten. Das Geld soll aus dem Stiftungsvermögen der Conterganstiftung aufgebracht werden, in die der Bund aus dem Kapitalstock 50 Millionen Euro einbringt. Weitere 50 Millionen Euro spendet die Firma Grünenthal.
Obwohl durch den 1971 zwischen den Eltern der Contergangeschädigten, der Firma Grünenthal und der Bundesregierung geschlossenen Vergleich jeder weitere Anspruch gegenüber der Firma ausgeschlossen ist, haben sich die Eigentümer damit freiwillig zur Beteiligung an weiteren Verbesserungen für die Situation der Geschädigten bereit erklärt. Ob es möglich ist, den damaligen Prozess und den ausgehandelten Vergleich nach so vielen Jahren noch einmal auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen, kann ich juristisch nicht beurteilen. Ich bedaure sehr, dass es damals überhaupt zu diesem Vergleich gekommen ist.
Weitere finanzielle Leistungen sind von Seiten des Bundes vorerst nicht vorgesehen.
Auch wenn mir bewusst ist, dass alle Leistungen den Schaden für die Gesundheit und die seelische Belastung der Betroffenen nicht ausgleichen können, leisten die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen einen Beitrag dazu, die Situation von Contergan-Geschädigten zu verbessern.
Mit freundlichen Grüßen
Gabriele Hiller-Ohm