Frage an Gabriele Hiller-Ohm von Julian C. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Hiller-Ohm,
ich möchte mit Ihnen über das Thema Sanktionen nach SGB II sprechen.
Ich habe ihre heutige Rede im Bundestag verfolgt und fragte mich dabei: Wer braucht eine Partei wie die SPD überhaupt noch, die sich in der Opposition lieber mit der Linken statt mit der Regierungskoalition streitet?
In unserem Grundgesetz stehen so Sätze wie "die Würde des Menschen ist unantastbar" und "die Bundesrepublik ist ein sozialer Bundesstaat". Mit diesen beiden Grundsätzen hat die SPD im Jahre 2004 meiner Meinung nach gebrochen, als sie das SGB II beschloss. Neben vielen anderen grundrechtswidrigen Regelungen wie z.B. der willkürlich festgelegten, niedrigen Regelsatzhöhe, der Eingliederungsvereinbarung oder der Aufhebung von Reiserecht und freien Berufswahl halte ich die Sanktionierung für die größte Einschränkung von Grundrechten seit Bestehen der Bundesrepublik. Wie können Sie es moralisch überhaupt rechtfertigen, einem Menschen seine Grundsicherung zu verweigern? Wovon soll dieser Mensch leben? Die Regelsätze sind bereits das Existenzminimum (das Sozialgericht Berlin hat die 2011 mit Zustimmung der SPD verabschiedeten Sätze schon wieder als verfassungswidrig eingestuft). Wenn Sie einen Hartz-IV Bezieher sanktionieren, verweigern Sie ihm letztendlich seine Existenz und damit seine Würde.
Jetzt sagen Sie, wer Sozialleistungen erhält, muss alles tun um aus dem Leistungsbezug wieder raus zu kommen. Und ich frage Sie: Wirklich ALLES? Wenn man sich mal ansieht, wie leicht und ungerechtfertigt Sanktionen z.T. verhängt werden und ohne Konsequenzen für die Verantwortlichen, dann ist da von Würde nicht mehr viel übrig.
Sie fordern "Schluss mit mies bezahlten Jobs". Wissen Sie was? Die haben Sie, die SPD, doch selber geschaffen mit dem SGB II und den Sanktionen!
mit freundlichen Grüßen,
Julian Carstensen
Sehr geehrter Herr Carstensen,
meinen Fraktionskolleginnen und -kollegen und mir geht es in der Bundestagsarbeit um die inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen und nicht um Fundamentalopposition. Deshalb setzen wir uns nicht nur mit Initiativen der Regierungsfraktionen, sondern auch mit Anträgen der Opposition kritisch auseinander. Das machen die anderen Oppositionsfraktionen im Übrigen ganz genauso.
Wir wissen, dass wir in unserer Regierungszeit Entscheidungen getroffen haben, die von vielen Bürgerinnen und Bürgern nicht geteilt wurden. Hartz IV und die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sind dabei zentrale Punkte. Wir haben diese Entscheidungen vor dem Hintergrund sehr hoher Arbeitslosigkeit und des sich anbahnenden demografischen Wandels getroffen. Bei einigen Entscheidungen waren wir zum Kompromiss mit CDU und CSU gezwungen, die zu der Zeit die Mehrheit im Bundesrat besaßen und viele unserer Initiativen darüber aushebeln konnten.
Ich finde es nach wie vor richtig, dass wir Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt haben. Denn dies ermöglichte, auch Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger in die Instrumente der Arbeitsförderung einzubeziehen. Auch die Neuausrichtung der ehemaligen Bundesanstalt für Arbeit, die Intensivierung der Vermittlung und die Hilfe aus einer Hand haben sich bewährt.
Unsere Reformen haben die Auswirkungen der weltweiten Finanzmarkt- und anschließenden Wirtschaftskrisen in Deutschland abgemildert. Die Arbeitslosigkeit ist in den letzten Jahren deutlich gesunken. Das allein sagt jedoch noch nicht viel über den Arbeitsmarkt aus. Natürlich spielt auch die Qualität der Arbeitsplätze eine entscheidende Rolle. In diesem Bereich hat es leider deutliche Fehlentwicklungen gegeben. Die Ausweitung prekärer, also unsicherer Beschäftigung, Dumpinglöhne, befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit und Werkverträge sind Beispiele dafür. Dies haben wir erkannt und uns mit unseren Positionen zu Guter Arbeit neu ausgerichtet und Lösungen formuliert.
Denn einerseits stehen wir vor einem zunehmenden Fachkräftemangel. Andererseits müssen wir Perspektiven für die Langzeitarbeitslosen schaffen, um eine Spaltung des Arbeitsmarktes zu verhindern und die Teilhabechancen für alle Menschen zu verbessern.
Von dem erfreulichen konjunkturbedingten Abbau der Arbeitslosigkeit profitieren vor allem gut qualifizierte Arbeitslose, die in der Regel nicht länger als ein Jahr arbeitslos sind. Für viele langzeitarbeitslose Menschen – besonders Frauen, Jugendliche und Ältere – hingegen haben sich die Chancen nicht verbessert. Es müssen aber auch denjenigen, die bislang noch vom Aufschwung am Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, Chancen gegeben werden, damit sie am Erwerbsleben teilnehmen und sich beruflich weiterentwickeln können.
Von der schwarz-gelben Bundesregierung ist eine solche Politik nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Sie verschärft die Spaltung am Arbeitsmarkt, indem Mindestlöhne verweigert und Lohndumping und Missbrauch der Leiharbeit weiter geduldet werden. Gleichzeitig wurden die Förderleistungen für junge Menschen und Arbeitslose um Milliardenbeträge gekürzt. Dies ist nach unserer Überzeugung keine nachhaltige Politik, da so Arbeitslosigkeit statt Arbeit finanziert wird.
Sehr geehrter Herr Carstensen, sie werfen der SPD vor, sich für verfassungswidrige Regelsätze eingesetzt zu haben. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2010 mussten die Regelsätze von der Bundesregierung neu festgesetzt werden. Im Mai 2010 hatten sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat durch die Landtagswahl in Nordrhein-Westfahlen zugunsten der SPD geändert. Wir konnten nun im Vermittlungsausschuss Einfluss auf die Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils nehmen und haben einen Kompromiss erreicht, der nicht nur die Regelsätze umfasste.
So haben wir deutliche Verbesserungen beim Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder und Jugendliche erreicht. Davon profitieren nicht nur Familien im SGB II-Bezug, sondern auch einkommensschwache Familien, die auf aufstockende Sozialleistungen wie Wohngeld und Kinderzuschlag angewiesen sind. Im Vermittlungsverfahren konnten wir darüber hinaus Mindestlöhne für 1,2 Millionen Beschäftigte in der Leiharbeit sowie die schrittweise Entlastung der Kommunen bei den Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durchsetzen.
Zudem haben wir uns während des gesamten Verfahrens für verfassungskonforme Regelsätze ausgesprochen und deutlich gemacht, dass wir Zweifel haben, ob die Berechnungen der Bundesregierung für die Regelsätze den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 entsprechen. CDU, CSU und FDP haben sich aber während des gesamten Verfahrens in Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuss geweigert, unsere Bedenken hinsichtlich der Verfassungskonformität der Regelsätze aufzugreifen und das Gesetz im Vermittlungsverfahren zu verändern.
Diese Bedenken haben wir in verschiedenen Anträgen sowie in Erklärungen bei der Verabschiedung des Gesetzes wiederholt geäußert. Zugestimmt haben wir dem Kompromiss im Vermittlungsausschuss letztendlich, damit die erzielten Verbesserungen umgesetzt werden konnten und neue Regelungen durch das Verfassungsgerichtsurteil zum 1. Januar 2011 erfolgen mussten.
Das Berliner Sozialgericht hat die Regelsätze nun dem Bundesverfassungsgericht erneut zur Prüfung vorgelegt. Wir sehen uns daher in unserer Kritik bestätigt.
Das Gericht kritisiert ausdrücklich die Größe der Referenzgruppe zur Berechnung des Regelsatzes für Alleinstehende. Auch das ist ein wesentlicher Kritikpunkt der SPD. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat die Regelsatzhöhen nur noch auf der Grundlage der untersten 15 Prozent der Haushalte berechnet. Dies führte dazu, dass die Regelsätze verhältnismäßig niedrig ausfielen. Ebenso kritisiert das Gericht zurecht, dass verdeckte Armut nicht heraus gerechnet wurde. Dadurch kommt es zu so genannten Zirkelschlüssen. Diese ergeben sich, wenn Haushalte einberechnet werden, die „aufstockende“ Sozialleistungen erhalten. Einen weiteren wichtigen Kritikpunk sehen wir gemeinsam mit den Berliner Richtern darin, dass einzelne Positionen für die Regelsatzberechnung willkürlich nicht berücksichtigt werden.
Auch was die Sanktionsregelungen bei Hartz IV anbelangt, haben wir Korrekturen vorgenommen. Maßgeblich war dafür das bereits erwähnte Urteil der Bundesverfassungsrichter vom Februar 2010. Als Mitglied des zuständigen Ausschusses für Arbeit und Soziales ist mir die von Ihnen erwähnte Thematik der Sanktionsregelungen für Hartz IV-Bezieherinnen seit längerer Zeit bekannt. Denn bereits am 23. April letzten Jahres fand die erste Debatte dazu im Bundestag statt. Bei der damaligen sowie auch bei der von Ihnen angesprochenen kürzlich stattgefundenen Bundestagsdebatte am 26. April dieses Jahres habe ich dazu gesprochen. Diese Reden finden Sie auf meiner Homepage als Video und Text direkt unter den folgenden Links:
http://www.hiller-ohm.de/politische_arbeit/reden/5731774.html
http://www.hiller-ohm.de/politische_arbeit/reden/4628019.html
Darüber hinaus fand am 6. Juni 2011 dazu auch eine Sachverständigenanhörung statt, an der ich ebenfalls teilgenommen habe.
Die rein juristische Rechtswidrigkeit der derzeitigen Sanktionspraxis im SGB II ist sehr umstritten und pauschal wohl nicht zu beantworten.
Explizit untersagt hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 Sanktionen allerdings nicht. Auch eine Kleine Anfrage, die die SPD-Fraktion letzten Sommer an die Bundesregierung zu den Sanktionen sowie speziell zu der Problematik des Existenzminimums bei Sanktionen im Zusammenhang mit dem Verfassungsgerichtsurteil gestellt hat, hat dazu leider keine Erkenntnisse gebracht.
Das Urteil hat jedoch im Hinblick auf Einschränkungen des Existenzminimums Hinweise gegeben. In gewissen Umfängen sind demnach Leistungseinschränkungen zulässig. Diese dürfen allerdings nicht das physische Existenzminimum, also Nahrung, Kleidung, Wohnung und eine medizinische Versorgung einschränken. Deshalb fordern wir seitens der SPD-Fraktion auch eine wirkliche Prüfung, ob eine Sanktion das Existenzminimum einer Grundsicherungsbezieherin oder eines Grundsicherungsbeziehers gefährdet, wodurch in der Folge sogar ganze Familien in Not geraten können.
Gemeinsam mit meinen Fraktionskolleginnen und -kollegen der SPD sehe ich darüber hinaus Änderungsbedarf insbesondere bei folgenden Punkten:
• Die Leistungen für Unterkunft und Heizung müssen von den Sanktionen ausgenommen werden. Hierdurch besteht zudem die Gefahr, dass alle Familienangehörigen in Mithaftung genommen werden.
• Wir brauchen mehr Flexibilität bei den Sanktionen. Wenn ein Arbeitsuchender erkennt, dass er einen Fehler gemacht hat, dann muss eine Sanktion auch schnell zurückgenommen werden können. Die Sanktionsdauer kann derzeit nicht flexibel verringert werden.
• Bevor eine Sanktion verhängt wird, muss zuvor zwingend eine schriftliche Belehrung erfolgen. Die Neuregelung der schwarz-gelben Koalition, die unter bestimmten Voraussetzungen eine schriftliche Information für entbehrlich hält, muss geändert werden. Denn die oder der von Sanktionen Bedrohte muss davon vorher wissen.
• Es gibt keinen erkennbaren Grund, warum Jugendliche härter sanktioniert werden als Ältere. Die derzeitige Regelung muss geändert und vereinheitlicht werden.
Wir haben die Bundesregierung aufgefordert, Lösungsvorschläge vorzulegen und werden uns für Änderungen bei den Sanktionsregelungen einsetzen.
Dass es aber auch Missbrauch gibt, ist eine Tatsache. Im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht der Gesetzgeber hier Grenzen zu setzen, wenn beispielsweise Vereinbarungen mit dem Jobcenter nicht eingehalten, Maßnahmen oder Arbeitsangebote abgelehnt werden. Allerdings müssen Sanktionen mit Augenmaß erfolgen und dürfen keine Schikanen sein. Deshalb wollen wir mehr Flexibilität bei den Sanktionen, um auf Individualitäten einzugehen, die jeder Einzelfall mit sich bringt.
Missbrauchsfälle sind aber die große Ausnahme. Die Diskussion um angeblich faule Hartz-IV-Empfänger ist verfehlt. Die allermeisten Leistungsbezieherinnen und -bezieher wollen arbeiten und wären froh, wenn sie einen Arbeitsplatz fänden. Dies zeigt auch die sehr geringe Sanktionsquote von lediglich 3 Prozent.
Gemeinsam mit meiner Partei, der SPD, setze ich mich dafür ein, dass gute Arbeit und ein menschenwürdiges Dasein ohne Armut für jeden möglich ist. Deshalb darf es auch keine verpflichtende Vermittlung in Arbeitsplätze mit Dumpinglöhnen oder sittenwidrigen Gehältern geben. Zumutbar ist eine Arbeit unserer Ansicht nur dann, wenn sie tariflich entlohnt wird. Wo dies in Ermangelung eines tariflichen Lohnes nicht möglich ist, ist nur eine ortsüblich bezahlte Arbeit zumutbar. Absolute Untergrenze muss der jeweils gültige Mindestlohn sein. Aus diesem Grund fordern wir einen allgemeinen gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro pro Stunde und treten dafür ein, dass prekäre Beschäftigung abgebaut und normale sozialversicherungspflichtige Arbeit wieder zum Standard in Deutschland wird.
Mit freundlichen Grüßen
Gabriele Hiller-Ohm