Frage an Frank-Walter Steinmeier von Monika F. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie
Guten Tag!
Sehr geehrter Herr Dr. Steinmeier, gegen das Vergessen!
Was haben Sie persönlich in Ihrer Gemeinde/Stadt, in Ihrem Kreis, in Ihrem Wahlkreis in den letzten Jahren getan, um das Vergessen der NS Zeit und der Greueltaten, die in dieser Zeit begangen wurden, zu verhindern? Und was haben Sie persönlich zur Aufarbeitung dieser Zeit beigetragen? Gibt es in Ihrem Wahlkreis Heimat- und Geschichtsvereine oder dergleichen und wie haben Sie sie unterstützt oder werden von Ihnen unterstützt?
Ich gehe davon aus, dass Ihnen bekannt ist, dass das BKA von ehemaligen Nazigrößen wie Dickopf usw. geführt wurde. Wie kann es sein, dass die Bilder dieser Männer immer noch in der Bildergalerie des BKA hängen?
Herr Dr. Steinmeier ist Ihnen bekannt, wie viele öffentliche Gebäude, Brücken usw. bundesweit immer noch Namen ehemaliger Nazigrößen tragen und warum dauert es Ihrer Meinung nach so lange, bzw. woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass es so lange dauert, bis endlich diese völlig unberechtigten öffentlichen "Würdigungen" entfernt werden?
Vielen Dank schon einmal vorab für Ihre Antwort und
mit freundlichem Gruß
Monika Frank
Sehr geehrte Frau Frank,
vielen Dank für Ihre Anfrage an Herrn Steinmeier, auf welche ich Ihnen gern antworten möchte. Gerade im Jahr 2015 zeigt sich, dass die Erinnerung an die Gräuel des Krieges nicht in Vergessenheit geraten darf, besonders vor dem Hintergrund der aktuellen internationalen Krisen, die auch 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fortbestehen bzw. neu entstanden sind.
Herr Steinmeier nimmt regelmäßig an Veranstaltungen teil, welche sich der Erinnerung an die Verbrechen der NS Zeit widmen. Allein im Jahr 2015 hielt er z.B. anlässlich der Eröffnung der Stiftung Internationale Akademie Nürnberger Prinzipien, an der Hebrew University in Jerusalem, auf dem Waldfriedhof in Halbe wie auch bei der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Sachsenhausen, zahlreiche Reden, die ich Ihnen für das Jahr 2015 nachfolgend zusammengestellt habe. Vielleicht haben Sie Lust, sich die eine oder andere näher anzuschauen.
Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung der Stiftung "Internationale Akademie Nürnberger Prinzipien: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150607_Rede_BM_Er%C3%B6ffnung_Internationale_Akademie_N%C3%BCrnberger_Prinzipien.html
Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier an der Hebrew University in Jerusalem anlässlich der Zeremonie zur Verleihung der Ehrendoktorwürde: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150531_Rede_BM_Hebrew_University.html
Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 70 Jahren in Wolgograd: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150502_Rede_BM_Er%C3%B6ffnung_Friedenskonzert_Wolgograd.html
50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen – Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor dem Deutschen Bundestag: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150507-BM_BT_D_ISR.html
Rede von Außenminister Steinmeier bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Kriegsendes, Abgeordnetenhaus von Berlin: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150502_Rede_BM_70_Jahrestag_Kriegsende_Berlin.html
Rede von Außenminister Steinmeier bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Kriegsendes, Waldfriedhof Halbe: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150429_Waldfriedhof_Halbe.html
Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung der Ausstellung "1945 – Niederlage. Befreiung. Neuanfang." im Deutschen Historischen Museum: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150423-BM_DHM.html
Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier zum 70. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150419-BM_Sachsenhausen.html
Ansprache von Außenminister Frank-Walter Steinmeier beim Konzert zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust "Violins of Hope": http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150127-BM_Violins.html
Da Sie sich insbesondere für das diesbezügliche Wirken von Herrn Steinmeier in seinem Wahlkreis interessieren, möchte ich auch hierzu ein paar Ausführungen machen. Herr Steinmeier unterstützt z.B. den Heimat- und Geschichtsverein „Die Altstädter e.V.“. Dieser setzt sich unter anderem mit der Historie der Stadt Brandenburg aktiv auseinander. Darüber hinaus lädt er regelmäßig Besuchergruppen in die Ausstellungen wie z.B. „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, „Topografie des Terrors“ oder „Haus der Wannseekonferenz“ ein. Diese Punkte sind stets im Programm der Besuchergruppen aus dem Wahlkreis enthalten.
Außerdem gab es mehrere Lesungen des Kulturvereins Brandenburg e.V., dessen Vorsitzender Herr Steinmeier ist, die zum Thema NS-Verbrechen stattfanden, so z.B.
- Bernhard Schlink „Der Vorleser“
- Antje Vollmer "Stauffenbergs Gefährten" - Das Schicksal der unbekannten Verschwörer
- Der Journalist Werner Sonne und der ehemalige deutsche Botschafter in Israel, Harald Kindermann - „Der schwierige Weg zum Frieden“
- Lesungen "Verbrannte Dichter" - deutsche Dichter, deren Werke der Bücherverbrennung der Nazis zum Opfer fielen vorgetragen von
Prominenten
Frank-Walter Steinmeier unterstützt darüber hinaus Initiativen aus dem Wahlkreis, die sich für eine Versöhnungskultur zwischen Deutschland und Israel starkmachen. Hier sind unter anderem die Brandenburger Symphoniker und deren Förderverein zu nennen. Auch unterstützt Herr Steinmeier die Stiftung Begegnungsstätte Gollwitz.
Was Ihre Fragen zum BKA in Bezug auf dessen NS-Vergangenheit betrifft, möchte ich Sie auf das Projekt "BKA-Historie" hinweisen. Beginnend mit einer Kolloquienreihe im Jahre 2007 begann das Bundeskriminalamt, auf Initiative des BKA-Präsidenten Joerg Ziercke, die Geschichte des Amtes kritisch zu reflektieren, insbesondere im Hinblick auf seine Gründungsphase. Besondere Aufmerksamkeit lag auf erkennbaren strukturellen und personellen Kontinuitäten und Brüchen in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus. Thematischer und zugleich analytischer Ausgangspunkt bildeten dabei die Fragen, inwieweit die von Ralph Giordano aufgestellte These von der "zweiten Schuld", gemäß derer Teile der Elite des nationalsozialistischen Regimes quasi übergangslos in die Nachkriegsgesellschaft integriert wurden, auch auf das BKA zutrifft und ob auf diese Weise in der Zeit des sogenannten "Dritten Reiches" geprägte Denk- und Handlungsmuster bis in die Gesellschaft der frühen Bundesrepublik und deren Institutionen tradiert wurden. Insbesondere sollte aufgearbeitet werden, inwieweit hiervon Schlüsselpositionen betroffen waren, mit Folgen für die Aufgabenwahrnehmung der Behörde sowie die Konzeption und Praxis der Kriminalitätsbekämpfung. Die Kolloquienreihe wurde 2008 dokumentiert in einem Sonderband der Buchreihe "Polizei+Forschung": http://www.bka.de/nn_233244/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/01PolizeiUndForschung/Sonderband2009DasBundeskriminalamtStelltSichSeinerGeschichte.html
Um etwaige Verbindungslinien zum NS-Regime aufzuzeigen, wurde vom BKA ein Forschungsprojekt unter Leitung von Professor Dr. Wagner von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Auftrag gegeben. Diese Aufarbeitung erfolgte in dem Bewusstsein, dass die spezifische Organisationsstruktur und Handlungspraxis einer Institution nur in Kenntnis ihrer Vergangenheit und ihrer Prägungen authentisch und verantwortlich gestaltet werden können. Die zentralen Fragestellungen des Forschungsprojekts lauteten:
War die Geschichte des BKA im Hinblick auf Organisation und Organisationskultur durch etwaige Verbindungen im Sinne von Kontinuitäten zum NS-Regime geprägt? Und wenn ja, in welcher Weise, wodurch und wie lange? Ziel des Forschungsprojektes war es demzufolge, Strukturen, Denkmustern, Kontinuitäten und Brüchen in der Entwicklung des BKA von seiner Gründungsphase bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund entsprechender Entwicklungen in der NS-Zeit zu untersuchen. Die ersten Resultate des Forschungsprojekts der Martin-Luther-Universität wurden von den Forschern bei einem Kolloquium am 6. April 2011 in Wiesbaden präsentiert und unter dem Blickwinkel diskutiert, welche Schlüsse das Bundeskriminalamt aus den Befunden der vorgelegten Forschungsergebnisse für die Zukunft ziehen könnte. Präsident Jörg Ziercke betonte in seinem Begrüßungsvortrag, " …dass es dabei nicht um Schuldzuweisungen gehe, sondern um Verantwortungsübernahme für unser Gemeinwesen im Bewusstsein unserer gemeinsamen Geschichte und der vor uns stehenden Aufgaben." Die umfassende Dokumentation des Kolloquiums, der Diskussionen und Auseinandersetzungen mit den Ergebnissen des Forschungsprojekts erfolgte in einem Sonderband der Buchreihe "Polizei+Forschung": http://www.bka.de/nn_233244/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/01PolizeiUndForschung/Sonderband2011DerNationalsozialismusUndDieGeschichteDesBKA.html
In einem weiteren Sonderband der Buchreihe "Polizei+Forschung" wurden letztendlich die gesamten Ergebnisse des Forschungsberichts publiziert: http://www.bka.de/nn_233244/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/01PolizeiUndForschung/Sonderband2011SchattenDerVergangenheit.html
Die Forschungsergebnisse können wie folgt zusammengefasst werden:
Das 1951 gegründete Bundeskriminalamt (BKA) rekrutierte einen Großteil seiner Beamtenschaft zunächst aus ehemaligen Angehörigen der nationalsozialistischen Polizei. Ein vom BKA 2008 in Auftrag gegebenes Forschungsprojekt ging vor diesem Hintergrund drei Fragen nach:
1. Welchen Einfluss gewannen die im Amt reaktivierten NS-Polizisten auf seine Konzeptionen und seine Praxis?
2. Wie prägten jene Erfahrungen, welche diese Polizisten vor 1945 gemacht hatten, das BKA?
3. Wie wurde die NS-Vergangenheit eines Teils der Gründergeneration innerhalb des BKA thematisiert?
Das aus dem Forschungsprojekt hervorgegangene Buch zeigt, dass die im BKA eingestellten NS-Polizisten während der 1950er Jahre austesteten, inwieweit sie alte Konzepte würden fortführen können. In den 1960er Jahren gerieten diese Beamten unter wachsenden Anpassungsdruck: Die Staatsanwaltschaften führten umfangreiche Ermittlungen gegen ehemalige NS-Polizisten, darunter auch BKA-Mitarbeiter, wegen NS-Gewaltverbrechen durch. Zugleich stellte das Amt interne Nachforschungen zur NS-Vergangenheit seiner Beamten an. Auf den radikalen Umbau des Amtes in den 1970er Jahren besaßen diese Beamten keinen Einfluss mehr, zugleich aber ging im BKA das Bewusstsein für die mit ihnen verbundene historische Belastung verloren.Letztlich haben die im BKA reaktivierten ehemaligen NS-Polizisten den Rechtsstaat nicht real gefährdet; gerade für die ehemaligen Opfer der NS-Polizei aber bleiben ihre Nachkriegskarrieren ein Skandal. Ein wichtiges Anliegen ist, dass die Erkenntnisse aus dieser Forschungsarbeit den Eingang in die polizeiliche Ausbildung des gehobenen und höheren Vollzugsdienstes finden werden und so ein Beitrag für geschärftes Bewusstsein für die Verantwortung polizeilichen Handelns geleistet wird.
Zu Ihrer Frage, warum Umbenennungen von z.B. Gebäuden nach ehemaligen Nazigrößen so lange dauern, möchte ich Ihnen anhand von Straßennamen erläutern. Grundsätzlich wichtig zu wissen ist die Tatsache, dass hierfür die Kommunen zuständig sind. Wie Sie wissen, wurden zur Zeit des Nationalsozialismus viele Straßen zu Zwecken der Propaganda und Machtdemonstration nach bedeutenden lebenden NS-Persönlichkeiten benannt oder umbenannt, so gab es beispielsweise oft eine Adolf-Hitler-Straße. Straßen, deren Namen in direktem Bezug zum Nationalsozialismus standen, insbesondere die zahlreichen Adolf-Hitler-Straßen, wurden nach 1945 im Rahmen der Entnazifizierung in beiden Teilen Deutschlands vollständig umbenannt. Da Umbenennungen wie gesagt Sache der Kommunen sind und langfristige Folgen haben, müssen sich erst einmal Initiativen (Vereine, Forschungsprojekte usw.) vor Ort gründen, um die Hintergründe der Personen, die im Verdacht einer Nazivergangenheit stehen, genau zu erforschen. In vielen Städten gibt es bereits zahlreiche dieser Projekte. So hat z.B. in Krefeld das Vermessungsamt ein 300 Seiten umfassendes Werk zur Geschichte der Krefelder Straßennamen verfasst. Darin sind auch Streitigkeiten über Namensbeziehungen zur NS-Zeit und völkischer Ideologie enthalten. Die SPD in Hildesheim hatte 2011 zum Umgang mit „schwierigen“ Straßennamen einen Schülerwettbewerb ausgeschrieben. Dabei wurden viele Hinweise auf Personen, die mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft als Förderer, Unterstützer oder Nutznießer verstrickt waren, gesammelt. Die SPD in Mönchengladbach machte sich in der Vergangenheit für eine Geschichtswerkstatt stark: Sie sollte eine Strategie für den Umgang mit Persönlichkeiten, die mit der Nazi- oder Kolonialzeit in Verbindung gebracht werden, erarbeiten. Der Name Paul von Hindenburg ist in Münster nicht länger willkommen. Der Stadtrat hat am 2012 – im sechsten Anlauf seit 1947 – beschlossen, dass der nach dem letzten Reichspräsidenten der Weimarer Republik benannte Platz künftig Schlossplatz heißt. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe veranstaltete 2011 eine Tagung mit 200 Vertretern westfälischer Städte und Gemeinden, Museen, Heimatverbänden, Bildungseinrichtungen und der Wissenschaft zum Thema „Fragwürdige Ehrungen“. Dies sind nur einige Beispiele für Initiativen, die sich auch für die Umbenennungen stark machen. Erschwerend kommt hinzu, dass es oft hitzige Diskussionen zwischen Umbenennungswilligen und Anwohnern gibt. An der Frage, ob Straßen und Plätze nach umstrittenen Reichspräsidenten oder in der NS-Zeit aktiven Schriftstellern, Kulturfunktionären, Wissenschaftlern und Gelehrten benannt sein sollten, scheiden sich die Geister - ehren oder nicht ehren? Weiter erinnern, vom Straßenschild entfernen oder mit Erläuterungen versehen? Diese Fragen sind zentraler Bestandteil der Diskussionen um die Umbenennung von Straßen. In vielen Städten und Gemeinden stehen Debatten über NS-belastete Namen auf der tagespolitischen Agenda.
Wie Sie sich vorstellen können, nehmen die langwierige Archivarbeit und Quellenrecherche der Initiativen vor Ort, aber auch die beschriebenen Debatten zwischen Befürwortern und Gegnern von Umbenennungen viel Zeit in Anspruch. Deshalb wird sich die Diskussion um die Frage von Umbenennung oder nicht wohl auch noch in Zukunft fortsetzen.
Ich hoffe, dass ich Ihre Fragen damit beantworten konnte.
Mit freundlichem Gruß
Anikó Rumpler
Leiterin des Abgeordnetenbüros
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Mitglied des Deutschen Bundestages
Bundesminister des Auswärtigen