Frage an Frank-Walter Steinmeier von Tom B. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Dr. Steinmeier,
meine Frage bezieht sich auf die von der rot-grünen Regierung 2005 eingeführte Regelung zur Grundsicherung.
Die aktuelle Höhe des Regelsatzes von 382,00 € sichert zweifelsohne das Überleben. Nach dem umfassenden Austausch mit Betroffenen und einigen Selbstversuchen möchte ich Ihnen jedoch meine Erkenntnisse zum Regelsatz mitteilen und um eine Stellungnahme bitten.
Der Regelsatz genügt zur Deckung des täglichen Kalorienbedarfes sowie der elementarsten Güterversorgung. Jedes Gebiet der alltäglichen Lebensfinanzierung muss jedoch weit unterhalb des üblichen Niveaus gehalten werden.
Beispielsweise ist eine gesunde und vollwertige Ernährung, die nicht nur den Energiebedarf deckt, sondern den Körper mit wichtigen, gesundheitserhaltenden Stoffen wie Vitaminen, Mineralien, Ballaststoffen, sekundären Pflanzenstoffen, Antioxidantien etc. versorgt, nur unter Aufwendung nahezu des gesamten Regelsatzes für die Ernährung sicherzustellen. Aufgrund der Aufwendungen für Energiekosten, Kleidung und Hygiene, die nicht einsparbar sind, ist den Betroffenen jedoch eine gesundheitserhaltende Ernährung unmöglich. Die Ansprüche einer nicht nur rein energiedeckenden Ernährung können im für die Ernährung angesetzten Bedarf von 129,46 € unmöglich erfasst sein.
Aktuelle Studien legen eine bis zu 10 Jahre kürzere Lebenserwartung von Geringverdienern und Transferleistungsempfängern nahe.
Zur Frage:
Die Höhe des aktuellen Regelsatzes scheint offensichtlich eine Gesundheitsgefährdung für die Betroffenen zu beinhalten aufgrund des Zwanges zu einer Mangelernährung - sofern der Betroffene nicht bereit ist, andere Lebensbereiche völlig zu vernachlässigen oder abzuschaffen.
Wie stehen Sie und die SPD zu diesen Sachverhalten? Wäre eine Gesundheitsgefährdung durch Unterversorgung für Sie akzeptabel und verantwortbar? Wie beurteilen Sie die Leistungsfähigkeit unterversorgter bzw. mangelernährter Menschen?
mit freundlichen Grüßen,
Tom Berthold, Dresden
Sehr geehrter Herr Berthold,
Sie kritisieren die Berechnung der Regelleistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) und der Sozialhilfe (SGB XII) und bezweifeln, dass damit eine „gesunde und vollwertige Ernährung“ möglich sei. Neben Ihrem Selbstversuch verweisen Sie auf entsprechende Studien. Ich will gar nicht darauf verweisen, dass es auch Studien gibt, die zu anderen Ergebnissen kommen; denn es ist unbestritten, dass alle existenzsichernden Leistungen eben genau das sind: Leistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Insofern muss das Hauptaugenmerk darauf liegen, dass der Bezug dieser Leistungen ein möglichst kurzer ist; es entspricht nicht meinem Verständnis von Sozialstaatlichkeit, dass wir uns damit zufrieden geben, dass Menschen dauerhaft auf diese Transferleistungen angewiesen sind.
Gleichwohl müssen die Leistungen aber eben auch während des Bezugs ausreichend bemessen sein. Die Frage, was die angemessene Höhe der existenzsichernden Leistungen sein soll, hat die sozialpolitische Diskussion Jahrzehnte beschäftigt. Bis Anfang der 1990er Jahre galt in der Sozialhilfe das sog. „Warenkorb-Modell“: Unter Beteiligung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist normativ festgesetzt worden, welche Verbrauchsausgaben in welcher Höhe notwendig sind, um an den gesellschaftlichen Möglichkeiten teilzuhaben. Diese Wertungsfragen waren naturgemäß immer sehr umstritten, so dass dann beschlossen worden ist, das sogenannte „Statistik-Modell“ anzuwenden: Danach sollen sich die Regelleistungen nach dem bemessen, was das Statistische Bundesamt empirisch als Verbrauchsausgaben der nach der Einkommenshöhe geschichteten Haushalte ermittelt hat, und zwar für den unteren Einkommensbereich.
In Ihrer Anfrage nehmen Sie nun für den Ernährungsbereich eine explizite Wertannahme, was ‚gut‘ und ‚richtig‘ ist. Darüber kann man streiten - nur: Die gesetzliche Grundlage, nach der die Regelleistungen bemessen werden sollten, ist eine andere. Dabei verkenne ich nicht, dass auch mit dem „Statistik-Modell“ manipuliert werden kann. Genau dies hat die Bundesregierung nach Ansicht der SPD-Bundestagsfraktion auch getan, indem sie im Jahr 2010 insbesondere die statische Bemessungsgrundlage, also die Zahl der Haushalte, die als Referenzhaushalte dienen, so gestaltet hat, dass niedrigere Verbrauchsausgaben ermittelt worden sind, als es der Fall gewesen wäre, wenn - wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert - z. B. auch die verdeckt Armen aus der Stichprobe vorab ausgeschlossen worden wären. Bei korrekter Anwendung des „Statistik-Modells“, wie von der SPD-Bundestagsfraktion in einem Antrag formuliert, wären Haushalte in einem höheren Einkommensbereich die Bemessungsgrundlage gewesen, die entsprechend höhere Konsumausgaben getätigt haben, so dass auch die Regelleistungen für Ernährung höher ausgefallen wären. Es war in dem Vermittlungsverfahren daher eine Abwägung zu treffen: Stimmt man Regelleistungen zu, bei denen man Bedenken hat, um so Verbesserungen bei Branchen-Mindestlöhnen und die Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets für bedürftige Kinder auf den Weg zu bringen, oder nicht? Die SPD-Bundestagsfraktion hat es sich nicht leicht gemacht, sich dann aber für die Zustimmung entschieden.
Ich kann Ihnen daher nicht sagen, wie hoch die Ausgaben für Lebensmittel unter ernährungswissenschaftlichen Gesichtspunkten sein müssten. Zusagen kann ich aber, dass in einem zukünftig sozialdemokratisch geführten Arbeits- und Sozialministerium Entscheidungen zur Ermittlung und Bemessung der Regelleistungen getroffen werden, die einer fachlichen Kritik standhalten.
Mit freundlichen Grüßen
Frank-Walter Steinmeier