Sehr geehrter Herr Becher, dank der liberalen Gesetzgebung seit 2002, floriert in Deutschland die Prostitution mit all ihren Auswirkungen. Wie stehen Sie zum sogenannten Nordischen Modell?
Studien wie die von Farley et al. (2003, http://prostitutionresearch.com/pdf/Prostitutionin9Countries.pdf ) zeigen allerdings auf, dass die Mehrheit der Prostituierten zum einen in der Kindheit Gewalt und sexuellen Missbrauch erlebt haben und zum anderen unter posttraumatischen Belastungsstörungen leidet.
Mit dem ProstSchutzGesetz von 2017 wurde die Situation leider nicht besser. Noch immer herrschen in Deutschland katastrophale Zustände.
Wie wollen Sie deutschen und ausländischen Prostituierten helfen, aus der Prostitution auszusteigen?
U. Gerheim zeigt in seiner Studie „Die Produktion des Freiers“ auf, dass bei einigen Freiern durch kontinuierliche Prostitutionsnachfrage ein „Empathie- und Respektsverlust in Bezug auf körperliche und sexuelle Grenzsetzung“ (S. 303) festgestellt werden kann. Das hat Folgen für alle Frauen. Mit welcher Strategie wollen Sie zum Wohle der Gesellschaft die Prostitutionsnachfrage zurückdrängen?
Mit freundlichen Grüßen,
K. A.
Sehr geehrte Frau A.,
Vielen Dank für Ihre Frage, die ich gerne, aber nicht abschließend beantworten kann.
Das Nordische Modell zur Bekämpfung der Prostitution wird in meiner Partei gerade sehr kontrovers diskutiert. Derzeit werden Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen und es gibt auch unter den Fachpolitiker:innen noch keine abschließende Haltung dazu. So gibt es Befürchtungen, die Einführung des Nordischen Modells könnte das ganze Gewerbe vollends in die Illegalität verlagern und Mädchen und Frauen* völlig ungeschützt der Willkür und Gewalt von Zuhältern und Freiern aussetzen. Im Geschäftsgang des Hessischen Landtags befindet sich aktuell ein Berichtsantrag aller Frauen der SPD-Landtagsfraktion, der für Hessen die Situation nach dem Inkrafttreten des deutschlandweiten „Gesetzes zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituiertenschutzgesetz –ProstSchG) abfragt. Dieser Berichtsantrag, der in den nächsten Wochen im Sozial- und Integrationspolitischen Ausschuss des Landtags behandelt werden wird, fragt insbesondere Beratungs- und Hilfsangebote für ausstiegswillige Prostituierte ab. Auf Grundlage der Antworten des Ministers werden wir dann eine Strategie zu Eindämmung von Prostitution entwickeln. Prostituierten den Ausstieg zu ermöglichen und Ausstiegsstrukturen niedrigschwellig sicherzustellen, ist dabei ein zentrales Anliegen meiner Partei. Von größter Wichtigkeit ist, dass Ex-Prosituierten ihr Aufenthaltsstatus nicht entzogen werden darf.
Ich begrüße sehr, dass es in meiner Heimatstadt Gießen in der aktuellen Koalitionsvereinbarung von Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Gießener Linke heißt: „Wir setzten uns selbstverständlich ein für die Selbstbestimmung von Frauen über ihren Körper als Teil ihrer Selbstbestimmung und ihrem Recht auf Chancengleichheit und Gleichberechtigung.“ Und weiter: „Zum Schutz vor Gewalt wollen wir:
- eine gesicherte Finanzierung der Frauenhäuser, damit der Nachfrage entsprochen werden kann
- uns darum kümmern, dass die ‚Oase‘, das Haus für wohnungslose Frauen, bedarfsgerecht ausgestattet und erweitert wird und unbürokratisch Notunterkünfte zur Verfügung gestellt werden
- die städtischen Zuschüsse für „Unvergesslich weiblich“, „Wildwasser“ und „Liebig9“ sichern
- die Arbeit des bestehenden Runden Tisches Prostitution sowie die Weiterführung von Beratung und Streetwork in der Prostitution weiter unterstützen […]“
Eine wirksame Politik gegen Prostitution muss also den Prostituierten den Ausstieg ermöglichen, dabei den Aufenthaltsstatus unberührt lassen und sollte auch die potenziellen Freier über die Lage der Sexarbeiter:innen aufklären.
Herzliche Grüße
Frank-Tilo Becher