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Fabio De Masi
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Frage von Hartmut Georg M. •

Frage an Fabio De Masi von Hartmut Georg M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr De Masi,

aus dem Migrationsbericht geht hervor, dass 2015 sage und schreibe 2,14 Mio. Zuwanderer nach Deutschland einwanderten. Siehe diesen Link: http://www.mopo.de/news/politik-wirtschaft/rekordzuwanderung-ueber-zwei-millionen-menschen-sind-2015-nach-deutschland-gezogen-25294996
Halten Sie diese sehr hohe Zahl für angemessen? Aus meiner Sicht sind die Verlierer dieser Entwicklung diejenigen, die schon jetzt nicht aus dem Vollen schöpfen können und mit Zuwanderer um Jobs, (bezahlbaren) Wohnraum, Arzttermine usw. konkurrieren müssen. Sehen Sie das auch so und was tun Sie um Verteilungskämpfe zu verhindern? Mit wie vielen Asylanträgen rechnen Sie für 2016 und wie viele Länder inkl. Arbeitnehmerfreizügigkeitsrecht wollen Sie noch in die EU aufnehmen?

Diese Woche gab es einen Anschlag wahrscheinlich durch diesen Tunesier, siehe Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Anis_Amri
Wie kann es sein, dass jemand aus Tunesien hier Asyl beantragen darf, obwohl Deutsche dort Urlaub machen? Warum verwirken Menschen nicht ihr Asylrecht, die falsche Angaben machen oder ihre Ausweispapiere wegwerfen oder wie in diesem Fall wohl mehrere Identitäten "annahmen"?

Wie Sie anhand dieses Link sehen, können schwangere Hartz IV-Empfängerinnen bis auf 0Euro sanktioniert werden: http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/hartz-iv-regierung-fuer-sanktionen-bei-schwangeren-29211.php
Finden Sie das richtig und warum gibt es beim Asylrecht nicht solch drastische Sanktionsmöglichkeiten?

Mit freundlichen Grüßen
H.G.M.

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Antwort von
BSW

Sehr geehrter Herr M.,

Vielen Dank für Ihre Zuschrift.

Bevor ich auf Ihre Fragen eingehe gestatten Sie mir einige Vorbemerkungen.

Die Netto-Zuwanderung betrug in 2015 abzüglich der Auswanderer etwa 1, 14 Millionen Personen, da auch etwa eine Million Menschen Deutschland verließen. Von den Zuwanderern stammten etwa 39 Prozent aus der EU, 6 Prozent waren deutsche Staatsbürger. Etwa 30 Prozent stammten aus Asien und etwa 5 Prozent aus Afrika. Gleichwohl tut die Bundesregierung nichts, um die Ursachen von Abwanderung und Flucht zu beheben und eine gute Integration zu ermöglichen.

Zuwanderung im Rahmen der EU:

Zuwanderung bedeutet natürlich auch immer Abwanderung aus anderen Ländern (brain drain). Ein erheblicher Teil der EU Zuwanderung steht etwa in Verbindung mit der wirtschaftlichen und sozialen Krise in Süd- sowie Osteuropa. Es ist selbstverständlich nicht sinnvoll, wenn etwa junge qualifizierte Menschen dauerhaft gezwungen sind ihre Heimat zu verlassen. Einen erheblichen Anteil daran hat die von der Bundesregierung verfolgte Wirtschaftspolitik in der EU sowie der Eurozone, welche über die Kürzungspolitik die Krise und Arbeitslosigkeit in Südeuropa vertieft hat. Mit Freizügigkeit hat diese Politik daher wenig zu tun. Denn viele dieser Menschen treffen keine freie Entscheidung in ein anderes Land zu gehen, um ihren Horizont zu erweitern, sondern werden zur Auswanderung gezwungen.

Flüchtlingskrise:

Ein erheblicher Teil der Flüchtlinge sind auf die verfehlte Außenpolitik im Nahen Osten zurückzuführen. Die Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen oder Syrien haben Chaos und Staatenzerfall gestiftet, den Terror gestärkt und Flucht geschaffen. Auch die Europäische Nachbarschaftspolitik wie etwa Freihandelsabkommen mit Maghreb Staaten haben in Nordafrika die wirtschaftliche Miserie verschärft. Der Schlüssel zur Bekämpfung der Fluchtursachen ist daher u.a. eine politische Lösung in Syrien und anderorts.

Staatsversagen bei Zuwanderung und Flüchtlingskrise:

Das Problem in Deutschland ist m.E. dass bereits seit Jahren nicht hinreichend in die Infrastruktur investiert wird (die Investitionslücke beträgt jährlich etwa 100 Milliarden Euro. Soviel wäre nötig, um etwa den Verschleiß der Infrastruktur zu stoppen und deren Wert zu erhalten) und Zuwanderer häufig als billige Arbeitskräfte missbraucht werden.

Dies macht vielen Menschen Angst. Denn Zuwanderung führt eben dann nicht zwingend zu verschärfter Konkurrenz wenn die Infrastruktur der Bevölkerungsentwicklung angepasst wird (wie es etwa auch durch viele Neugeburten nötig wäre) und eine Integration in den Arbeitsmarkt und somit auch Beiträge zu den Sozialversicherungen gewährleistet werden. Dies erfordert hohe öffentliche Investitionen, eine Politik die Vollbeschäftigung ermöglicht und eine Vermögenssteuer, die den Bundesländern zu Gute käme und die Profiteure der letzten Jahre in die Pflicht nehmen würde statt die Probleme auf die kleinen Leute und die Mittelschicht abzuwälzen.

Darüber hinaus sind Menschen keine Amazon Pakete, die sich quer über den Globus schicken lassen. Wo Menschen aufeinander treffen kann es daher natürlich auch immer zu Konflikten und Spannungen kommen.

Die Bundesregierung setzt jedoch auf die qualifizierten Zuwanderer als Fachkräfte für deutsche Unternehmen (daher werden etwa Syrer aufgenommen und Afghanen abgeschoben ungeachtet der Sicherheitslage) und billige Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor. Jene die über keine hinreichenden Bildungsabschlüsse verfügen werden weitestgehend sich selbst überlassen. Das spaltet natürlich die Gesellschaft und wird weder den Zuwanderern noch den bereits hier lebenden Menschen gerecht.

Ein Staat der etwa auch seinen Fürsorgepflichten etwa gegenüber Minderjährigen nachkommt muss daher natürlich auch jede Person registrieren. Die große Mehrheit der Flüchtlinge fliehen vor dem Terror. Das anfängliche Chaos bei der Registrierung hat jedoch jenen geholfen, die aus jedem Flüchtling einen potentiellen Terroristen machen wollen und so dem Vertrauen der Bevölkerung in eine geordnete Integration von Menschen in Not erheblich geschadet.

Die Bundesregierung hat zudem im Rahmen der Flüchtlingskrise weder eine frühzeitige Abstimmung mit EU Partnern gesucht noch eine geordnete Betreuung und dezentrale Unterbringung ermöglicht. Mit einem ohnehin erforderlichen Investitionsprogramm in der EU - um diese größte Herausforderung seit dem 2 Weltkrieg zu bewältigen - sowie einer Perspektive für eine politische Lösung im Nahen Osten und somit die Rückkehr von Menschen, um ihr Land aufzubauen, wäre die Aufnahmebereitschaft auch in anderen EU Staaten sicher ausgeprägter gewesen.

Zum Terrorismus:

Darüber hinaus hat die Beteiligung der Bundeswehr an den Kriegseinsätzen im Nahen Osten und die Kumpanei mit Terrorpaten wie dem türkischen Präsidenten Erdogan oder Saudi Arabien, die den IS förderten, die Terroranschlagsgefahr in Deutschland erhöht. Zu einer effektiven Bekämpfung des Terrors hat die Linke im Europaparlament ein Video produziert, das Sie hier abrufen können. Es ist etwa skandalös, dass die vom IS kontrollierten Banken weiterhin Zugang zum europäischen Bankensystem haben.

https://m.youtube.com/watch?v=H1hzxj34-YY

Wer daher nun etwa Bundeswehreinsätze im Inneren fordert oder die Asylgesetzgebung in den Mittelpunkt stellt - aber zum totalem Staatsversagen im Falle des mutmaßlichen tunesischen Attentäters schweigt - macht einen billigen Ritt auf dem Rücken der Opfer und lenkt vom Beitrag der Bundesregierung zum Erstarken des Terrors ab.

Zu Ihren konkreten Fragen:

Ich halte im Rahmen der EU Freizügigkeit das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort sowie starke Gewerkschaften für zwingend erforderlich, um von den Arbeitgebern erwünschte Schmutzkonkurrenz im Rahmen der Entsendung von Arbeitnehmern aus Ländern mit niedrigen Löhnen zu unterbinden.

- Eine Erweiterung der EU erscheint mir nicht sinnvoll. Der ungehemmte Binnenmarkt hat etwa in Osteuropa zu erheblichen Verwerfungen geführt. Ich bewerte die EU Osterweiterung als Fehler.

- zu dem Fall des mutmaßlichen tunesischen Attentäters: Meines Erachtens waren hier nicht die deutschen Asylgesetze ausschlaggebend sondern das eklatante Staatsversagen bei der Anwendung der bestehenden Gesetze. Eine Abschiebung war ja vorgesehen. Warum etwa wurde der mutmaßliche Attentäter trotz der Kenntnis der von ihm ausgehenden Gefahr wieder auf freien Fuß gesetzt ? Die Weigerung Tunesiens gültige Papiere zu beschaffen ist hierfür kein hinreichender Grund. Es lagen deutschen Sicherheitsbehörden wie dem BND Informationen zur Gefährdungslage durch den Attentäter vor. Eine umfassende Überwachung fand auch nach seinem erneuten Freigang nicht statt. Dies sind doch die eigentlichen Probleme. Ob Deutsche in Tunesien Urlaub machen ist jedoch meines Erachtens kein gültiges Kriterium für sichere Herkunftsstaaten. Es wäre für den beschrieben Fall auch irrelevant, da der tunesische Attentäter ja ursprünglich nie angab Tunesier zu sein.

Mit den besten Grüßen,

Fabio De Masi

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