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Elisabeth Scharfenberg
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Frage von Dietmar S. •

Frage an Elisabeth Scharfenberg von Dietmar S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Scharfenberg,

im folgenden verlinkten Artikel geht es um "Deutsche Zustände", so heißt die von Wissenschaftlern unter Leitung des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer erstellte große interdisziplinäre Langzeitstudie, die in diesem Monat in ihrer neunten Auflage veröffentlicht wurde. Was Heitmeyer und seine Kollegen über die Befindlichkeiten der Deutschen herausfanden, ist im höchsten Maße alarmierend.
So ist von einer "deutlichen Vereisung des sozialen Klimas", von einer "rohen Bürgerlichkeit", und von einem "zunehmenden Klassenkampf von oben" die Rede. "Zivilisierte, tolerante, differenzierte Einstellungen in höheren Einkommensgruppen scheinen sich in unzivilisierte, intolerante Einstellungen zu wandeln" - es gäbe Hinweise auf eine "entsicherte wie entkultivierte Bürgerlichkeit", so die Wissenschaftler.

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/33/33857/1.html

Dies ist auch m.E. höchst alarmierend, weil sich Wertvorstellungen zu Toleranz, Gemeinsinn etc. gerade im Mittelstand, im Bildungsbürgertum, bei den sog. gut Situierten ins Negative ändern!

Was unternehmen Sie persönlich und ganz konkret in der nächsten Zeit als Abgeordnete, um dieser bedrohlichen Entwicklung entgegenzuwirken?

Mit freundlichen Grüßen

D. Schmutzr

„Arm und elend sind wir. Wenn wir jetzt auch noch dumm werden, können wir aufhören, ein Staat zu sein.“
Christian VIII. Friedrich, König von Dänemark und Norwegen, Entgegnung auf den Einspruch des Finanzministers gegen die Erhöhung des Bildungsetats

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Schmutzer,

für Ihre interessante Frage zu den Ergebnissen der interdisziplinären Langzeitstudie von Prof. Wilhelm Heitmeyer möchte ich mich bedanken. Leider komme ich erst jetzt dazu, Ihnen zu antworten.

Derzeit, so stellt Prof. Heitmeyer in der von Ihnen angesprochenen Studie fest, fühlt sich die Mittelschicht in Deutschland verstärkt von sozialen Abstiegsängste bedroht. Immer mehr Menschen meinen, laut Heitmeyer, zudem, dass wir uns Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness nicht länger leisten können. Gleichzeitig beobachtet Heitmeyer den Wunsch der Mittelschicht sich gegenüber schwächeren sozialen Schichten abzugrenzen. Wenn sich hieraus eine "Ideologie der Ungleichwertigkeit" herausbildet, fürchtet Heitmeyer, wäre damit ein starker Anstieg gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und ein neuer Rechtspopulismus verbunden. Insgesamt beobachtet er den Rückzug vor allem von Menschen unterer Soziallagen aus demokratischen Prozessen, und sieht damit die Gefahr eine Erosion der demokratischen Basis.

Diese Untersuchungsergebnisse sind, denke ich, sehr ernst zu nehmen. Über gefühlte Abstiegsängste hinaus, sehe ich in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung tatsächlich eine zunehmende Tendenz zur sozialen Kälte. Da werden die Hartz IV Regelsätze um unzureichende 5 Euro erhöht, weil der Regelsatz an immer geringeren Löhnen errechnet wird. Am Ende kann niemand mehr davon leben. Da werden Kinder aus ärmeren Familien bei der Erhöhung des Kindergeldes übergangen. Da weigert sich die Bundesregierung einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 7,50 Euro einzuführen. Obwohl bereits heute immer mehr Menschen in Deutschland arm sind trotz Arbeit. Auch beim Mindestlohn für Leiharbeit und in der Weiterbildungsbranche trifft die schwarz-gelbe Bundesregierung keine Vorsorge. Obwohl spätestens im Mai Lohndumping durch Leiharbeitskräfte aus Osteuropa droht, die zu dort üblichen, sehr geringen Mindestlöhnen beschäftig werden. Ich sehe es daher als meine Aufgabe an, mich gemeinsam mit meiner Fraktion für die Reform von Harzt IV einzusetzen, für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes, um die Lohnspirale nach unten zu durchbrechen, für mehr Bildungsgerechtigkeit für alle und für ein Ende der Rösler´schen Zwei-Klassen Medizin.

In Bezug auf die Rückzugstendenz aus demokratischen Prozessen möchte ich allerdings anmerken, dass ich in meiner politischen Arbeit derzeit auch ganz andere Beobachtungen mache. So fanden beispielsweise im letzten Jahr in ganz Deutschland die größten Demonstrationen gegen die Laufzeitverlängerungen der Atomkraftwerke seit Jahren statt, übrigens unter Beteiligung aller Schichten und Altersklassen. Tausende von Menschen gingen auf die Straßen für den Kopfbahnhof und gegen das unterirdische Bahnprojekt Stuttgart 21 oder für Verbesserungen in der Arbeitsmarktpolitik. In meinem Wahlkreis tritt zum Beispiel die Stadt Wunsiedel seit Jahren in einer großen Bürgerbewegung geschlossen gegen Rechts ein.

Diese Demonstrationen sind Meinungsäußerung von Menschen, die sich eben nicht aus demokratischen Prozessen zurückziehen. Vielmehr treten sie dafür ein, dass ihre Meinung auch zwischen den Wahlen gehört wird. Ihren Wunsch nach mehr Mitbestimmung nehmen wir Grünen sehr ernst. Seit Jahren setzen wir uns für die Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene ein. Über die Volksinitiative sollten auch Gesetzesvorschläge von außen das Parlament erreichen können. In wichtigen Sachfragen sollte die Bevölkerung in Deutschland die Möglichkeit erhalten, rechtlich bindend selbst zu entscheiden. Ich kann mir Volksentscheide in allen Politikbereichen vorstellen, ausgenommen bei den Grundrechten und dem Schutz von Minderheiten.

Auch zur Frage nach der "Vereisung des sozialen Klimas" möchte ich den Thesen von Prof. Heitmeyer Folgendes entgegen setzen: Derzeit ist jeder dritte Deutsche laut Freiwilligensurvey des Bundesfamilienministeriums ehrenamtlich tätig. Vom Sportverein bis zum Besuchsdienst im Krankenhaus gibt es eine breite Spanne von Tätigkeiten, die hier im Dienste der Gemeinschaft unentgeltlich geleistet werden. Sie sind Ausdruck eines großen Gemeinsinns und eines verbreiteten Verantwortungsbewusstsein. Daher würde ich die These von der Vereisung des sozialen Klimas durch die Mittelschicht und der stückweisen Erosion der Demokratie so nicht unterschreiben.

Mit freundlichen Grüßen
Elisabeth Scharfenberg