Frage an Doris Wagner von Hans S. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Sehr geehrte Frau Wagner,
mit einigem Erstaunen habe ich vernommen, wie manche SPD-und Linke-Politiker auf die CSU los gehen.
Wie man anhand dieses Berichts sehen kann, meint z.B. Herr Riexinger, daß die CSU damit Rechtsextreme ermuntern könnte:
Auf n-tv war soeben zu hören, daß Herr Riexinger die CSU in die Nähe der NPD rückt.
Kann man so ein Verhalten nicht im Bundestag thematisieren?
Ich meine, man kann unterschiedlicher Auffassung sein, aber das ist übelste Nachrede die von Herrn Riexinger ausgeht. Oder wie sehen Sie das?
Müssen diejenigen die sich zur Einwanderung äußern, nicht fürchten, daß sie in eine falsche Ecke gestellt werden? Sollen Kritiker so gar mundtot gemacht werden?
Ich bin seit zwei Jahren als 400 Euro-Jobber tätig. Eine schwere Fibromyalgie hindert mich an meine frühere berufliche Normalität anzuknüpfen. Ich bekomme weder Jobvorschläge, noch Hilfe von Ärzten. Es ist so schlimm, daß mir manchmal nicht mehr mal gebräuchliche Namen für Gegenständen einfallen.
Durch meine Situation ist es mir sogar verwehrt, daß ich mir Trauerkleidung kaufte.
Jetzt verhandelt die EU aber mit weiteren Ländern, am Ende könnte eine Vollmitgliedschaft stehen.
Warum versteht die Politik nicht, daß Niedrigverdiener, Menschen die nicht mehr in ihrem erlernten Beruf arbeiten können, keine weitere Konkurrenz am Arbeitsmarkt gebrauchen können? Bei aller anti-rassistischen Einstellung und Überzeugung, würde ich die schweizerische Zuwanderungspolitik für Deutschland jederzeit vorziehen. Niemand kann ernsthaft behaupten, daß die Schweiz ein undemokratisches Land ist. In Deutschland wird wohl kein allzu großer Wert darauf gelegt, was für eine Einwanderungspolitik die Bevölkerungsmehrheit befürwortet.
Wie wollen Sie das ändern?
Mit freundlichen Grüßen
Strauss
Sehr geehrter Herr Strauss,
vielen Dank für Ihre Anfrage. Ich kann mir gut vorstellen, dass Ihre persönliche Situation äußerst schwierig ist. Und deshalb bin ich froh, Ihnen zu Ihrer Frage einige Antworten geben zu können, die Ihre Furcht vor einer weiteren Zuwanderung vielleicht ein wenig abmildern.
Im Gegensatz zu der von Ihnen erwähnten Schweiz ist Deutschland Mitglied in der Europäischen Union. Wie Sie sicher wissen, gilt in der Europäischen Union das Prinzip der Freizügigkeit – und zwar für alle Bürgerinnen und Bürger in den Staaten der Europäischen Union. Genauso wie deutsche Staatsbürger das Recht haben, in allen Ländern der EU zu leben und zu arbeiten, gilt dies umgekehrt auch für alle anderen EU-BürgerInnen, die in Deutschland leben wollen.
Diese Rechte galten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Mittelosteuropa zunächst nur eingeschränkt, da die meisten der bestehenden Mitgliedsstaaten zeitgleich mit der EU-Osterweiterung (2004 und 2007) auch Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit für diese Bürgerinnen und Bürger einführten. Diese Möglichkeit für Übergangsregelungen war von Beginn an für maximal sieben Jahre vorgesehen. Damit läuft jetzt, im Jahr 2014, auch in Deutschland die Übergangsregelung für Menschen aus Rumänien und Bulgarien (die 2007 der EU beigetreten sind) aus.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie der Gedanke beängstigt, dass durch das Ende der Übergangsregelungen und durch eine nochmalige Erweiterung der EU weitere ArbeitnehmerInnen nach Deutschland kommen, die auf dem Arbeitsmarkt eine Konkurrenz für Sie darstellen könnten. Die bisherigen Erfahrungen mit der Zuwanderung von ArbeitnehmerInnen aus Ostmitteleuropa zeigen jedoch, dass diese Ängste unbegründet sind: BürgerInnen aus Polen, Tschechien, der Slowakei, den baltischen Staaten, Ungarn und Slowenien dürfen bereits seit dem 1. Januar 2011 in Deutschland leben und arbeiten – und die Zahl der Arbeitslosen ist in Deutschland seither nicht gestiegen, sondern im Gegenteil weiter gesunken. Die Behauptung, dass die Zuwanderer „den Deutschen die Arbeitsplätze stehlen“, stimmt also ganz offensichtlich nicht.
Was nun das CSU-Positionspapier mit dem Tenor "Wer betrügt, der fliegt", angeht, so halte ich die teils scharfe Kritik daran für absolut berechtigt: Denn diese „Drohung“ der CSU vermittelt den Eindruck, dass die meisten der Zuwanderinnen und Zuwanderer ausschließlich deshalb nach Deutschland kommen, um sich hier Sozialleistungen zu erschleichen. Diese Unterstellung ist aber nachgewiesenermaßen falsch.
Zum einen ist die von der CSU als Schreckensbild skizzierte „Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme“ schon rein rechtlich gar nicht möglich: EU-Bürger, die bereits arbeitslos nach Deutschland einreisen, können 3 Monate lang Arbeitslosenunterstützung beziehen – allerdings aus ihrem Heimatland, nicht aus dem deutschen Sozialversicherungssystem. Nach Ablauf von 3 Monaten dürfen arbeitslose EU-Bürger nur dann in Deutschland bleiben, wenn sie gegenüber den deutschen Behörden nachweisen können, dass sie über genügend eigene finanzielle Mittel verfügen, eine Krankenversicherung haben und keine Belastung für das deutsche Sozialsystem darstellen. Sonst erlischt ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland und sie müssen das Land wieder verlassen.
Anders liegt der Fall, wenn EU-Bürger in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren und dann erst arbeitslos werden. In diesem Falle haben EU-Ausländer grundsätzlich ein Recht auf die gleiche Behandlung wie deutsche Staatsbürger. Allerdings liegt es im Ermessen der deutschen Behörden, ob und wie lange Sozialleistungen gezahlt werden. Kommen die deutschen Behörden nach einer Prüfung des konkreten Falles zu dem Ergebnis, dass die betreffende Person eine „unverhältnismäßige Belastung“ für das deutsche Sozialsystem darstellt, kann das Aufenthaltsrecht aufgehoben werden.
Die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit ist also keineswegs ein „Einfallstor für Armutsmigranten“, wie oft behauptet wird. Und dies spiegelt auch die Statistik wider: Der Anteil der RumänInnen und BulgarInnen, die in Deutschland Sozialleistungen beziehen, an allen „Hartz-IV“-Empfängern liegt derzeit gerade mal bei 0,7%.
Angesichts dieser objektiv nicht übermäßig hohen Belastung der deutschen Sozialversicherungssystems durch Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien muss sich die CSU tatsächlich den Vorwurf gefallen lassen, das für Deutschland ökonomisch wie politisch unverzichtbare Projekt „Europa“ auf dem Altar einer fragwürdigen innenpolitischen Profilierung zu opfern.
Die Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Europäischen Union stellt keine Bedrohung dar – im Gegenteil: Nach Einschätzung von Experten trägt sie erheblich dazu bei, dass auch in Deutschland zu vergebende Stellen besser mit dem optimalen Personal besetzt werden können. Trotz der derzeitigen Wirtschaftskrise sind derzeit in der Europäischen Union noch etwa zwei Millionen offene Stellen nicht besetzt. Auch in Deutschland droht in vielen Bereichen ein Fachkräftemangel – so bleiben etwa im Gesundheitsbereich oder der IT-Branche bereits heute viele Stellen unbesetzt. Diese Lücken können durch die Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen, auch neuen, EU-Staaten gefüllt werden. Vielleicht gibt es ja auch in Ihrem Bekanntenkreis Menschen, die beispielsweise von polnischen oder rumänischen Pflegekräften betreut werden?
Schließlich kann nicht oft genug wiederholt werden, dass sich die Erweiterung der EU um die post-sozialistischen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas als eines der erfolgreichsten friedenspolitischen Instrumente der Europäischen Union erwiesen hat. Auch wenn nicht zu übersehen ist, dass viele EU-Mitglieder aus dem östlichen Europa noch immer mit Problemen bei der Einhaltung demokratischer Standards zu kämpfen haben – die EU-Mitgliedschaft stellt ein wichtiges Instrument zur Sicherung von Demokratie und friedlicher Nachbarschaft in ganz Europa dar. Und deshalb begrüße ich auch die Bemühungen um die Heranführung weiterer Staaten an die EU.
Der europäische Einheitsgedanke und damit auch die Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist ein schützenswertes Gut, das nicht durch populistische Thesen wie die der CSU gefährdet werden darf.
Mit herzlichen Grüßen,
Doris Wagner