Frage an Dagmar Roth-Behrendt von Tim F. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Roth-Behrendt,
heute musste ich lesen das der Präsident der EU, Herman Van Rompuy , den keiner EU-Bürger gewählt hat, gefordert hat, Mehrheitsentscheidungen sollen umgekehrt erfolgen. Zitat ( http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,719919,00.html ) "Wann auch immer es möglich ist, soll die Entscheidung über Sanktionen automatischer fallen und mit umgekehrter Mehrheit vorgenommen werden." Dies ist in meinen Augen der Abschied von der Demokratie wie wir sie kennen. Wie stehen Sie zu solchen Vorhaben. Wie ist Ihre Position zu den aktuellen Entwicklungen in der EU, die den Anschein erwecken, dass nationale Parlamente nur noch zum Duschreichen von EU-Beschlüssen dienen werden.
Hochachtungsvoll,
Tim Fuba
Sehr geehrter Herr Fuba,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Der Euro als europäische Gemeinschaftswährung ist seit seiner Einführung ein Erfolgsprojekt und hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Wirtschafts- und Finanzkrise einigermaßen unbeschadet überstanden haben. Zur Stabilität der europäischen Währung tragen auch die Stabilitätskriterien bei, die im Wesentlichen aus einer Begrenzung der Neuverschuldung auf 3 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und einer Begrenzung der Staatsverschuldung auf 60 % des BIP bestehen (Artikel 126 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und Protokoll Nr. 12 zum AEUV). Bei Verstößen gegen eines der beiden Kriterien kann ein so genanntes Defizitverfahren auch heute schon mit qualifizierter Mehrheit durch den Europäischen Rat (Staats- und Regierungschefs) eingeleitet werden. Die nationalen Parlamente haben in diesem Prozess bereits jetzt keine Entscheidungskompetenzen.
Von dieser Möglichkeit wurde allerdings selten Gebrauch gemacht, auch wenn Mitgliedsstaten die Kriterien nicht eingehalten haben. Während der Finanz- und Wirtschaftskrise hat dies allerdings mit dazu geführt, dass die Staaten in Bedrängnis gerieten. Deshalb haben die Staats- und Regierungschef der 27 EU-Mitgliedsstaaten eine Kommission unter Vorsitz des Präsidenten des Europäischen Rates, Hermann van Rompuy, eingesetzt, der die Finanzminister der Mitgliedsstaaten angehörten. Die Kommission hatte die Aufgabe, Vorschläge zu erarbeiten, welche Konsequenzen aus der Wirtschafts- und Finanzkrisen und den entstandenen Auswirkungen auf die EU gezogen werden könnten.
Van Rompuys Vorschlag zur Automatisierung des Defizitverfahrens sieht nun vor, dass das Defizitverfahren bei der Verletzung eines oder beider o. g. Stabilitätskriterien automatisiert eingeleitet wird, wenn der Europäische Rat nicht mit qualifizierter Mehrheit dagegen ist. Diesem Vorschlag sind die Staats- und Regierungschefs gefolgt und haben die Europäische Kommission aufgefordert, möglichst zeitnah einen Richtlinienvorschlag zu erarbeiten.
Ich halte die Diskussion um die Sanktionsmechanismen allerdings nicht für den zentralen Punkt in der Debatte und bin der Meinung, dass es Aufgabe der Staats- und Regierungschefs ist, sich auch über übergeordnete Fragen Gedanken zu machen. Da wäre zum Beispiel die Frage nach der Qualität der öffentlichen Ausgaben, die unter Umständen zu einer höheren (Neu-) Verschuldung führen. Für mich als Sozialdemokratin ist es ein Unterschied, ob die öffentlichen Mittel in Rüstungs- oder milliardenschwere umstrittene Infrastrukturprojekte fließen oder ob sie beispielsweise in Bildungs-, Arbeitsmarkt- oder Sozialprojekte investiert werden. Ich fordere schon lange, dass Bildungsausgaben als Investitionen gerechnet werden und damit nicht unter das Neuverschuldungskriterium fallen.
Darüber hinaus gilt es aus meiner Sicht, Möglichkeiten zur Verbesserung der Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte zu nutzen. Aus diesem Grund ist die Intention des europäischen Gipfels zur Beteiligung privater Banken und Gläubiger an einem dauerhaften Krisenmechanismus in Europa richtig und ich bin gespannt, wie die vagen Formulierungen des Gipfels umgesetzt werden.
Aber es gibt schon länger gute Vorschläge zur Verbesserung der Einnahmesituation: Bereits vor der Europawahl 2009 haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns für eine Finanztransaktionssteuer eingesetzt, mit der eine Abgabe von beispielsweise 0,05 % auf jede Transaktion erhoben werden soll. Das Europäische Parlament ist unseren Vorschlägen in seiner Mehrheit gefolgt. Auch die deutsche Bundeskanzlerin sagt inzwischen, sie würde diese Forderung unterstützen. Leider ist das an ihren Bemühungen nicht zu erkennen. Sie koppelt die Einführung in Deutschland an eine Einführung auf Ebene der 20 größten Industrienationen der Welt - wohlwissend, dass es dort nicht durchsetzbar ist. Aber auch auf europäischer Ebene nutzt sie nicht die Stärke Deutschlands, um sich für die Verbesserung der Einnahmesituation auch des deutschen Haushaltes einzusetzen. Die Finanztransaktionssteuer ist auch deshalb richtig, weil die Spekulanten als Verursacher der Krise an den Kosten ihres Handelns beteiligt werden müssen und die Steuer kurzfristige Spekulationen künftig unattraktiver macht, ohne die europäischen Finanzplätze massiv zu schädigen.
In keinem Bereich haben die nationalen Parlamente eine so große Kompetenz wie im Bereich der Steuerpolitik. Nicht zuletzt auf Druck Deutschlands ist dieser Bereich weiterhin in der alleinigen Regelungskompetenz der Mitgliedsstaaten. Deshalb wäre die Bundesregierung auch in der Lage, dem Bundestag die Einführung einer Finanztransaktionssteuer in Deutschland vorzuschlagen, wenn sie auf europäischer Ebene wegen des Widerstands des Vereinigten Königreiches nicht umgesetzt werden kann. Die Bundesregierung könnte damit ein Zeichen setzen und zeigen, dass sie es mit ihren Ankündigungen ernst meint. Gerade in dieser Frage hat der Deutsche Bundestag also sehr weitreichende Kompetenzen, die ihm auch nicht genommen werden. Und deshalb könnten auch die Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundestag eine solche Gesetzesinitiative anstoßen und ihrem Selbstverständnis als starkem Parlament Rechnung tragen.
Aber auch der Einfluss der nationalen Parlamente auf die Gesetzgebung in der Europäischen Union ist durch den Vertrag von Lissabon erhöht worden. Insbesondere dann, wenn er das Subsidiaritätsprinzip verletzt sieht, nachdem immer die möglichst regionalste Ebene sich eines Problems annehmen sollte, kann es mit Hilfe des neuen Frühwarnsystems Alarm schlagen und sich mit anderen nationalen Parlamenten zusammen tun und einen Gesetzgebungsvorschlag der Europäischen Kommission aufhalten oder vor dem Europäischen Gerichtshof klagen.
Und nicht zuletzt müssen Bundestag und Bundesrat selbstverständlich auch Änderungen der europäischen Verträge (mit 2/3-Mehrheit!) zustimmen. Diese Änderung wird zur Umsetzung der auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs beschlossenen Maßnahmen wohl notwendig sein.
Ich teile ihren Eindruck also nicht, dass die nationalen Parlamente nur noch zum "Durchreichen" von EU-Entscheidungen gebraucht werden. Die Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedsstaaten ist durch den Vertrag von Lissabon deutlicher geworden und den nationalen Parlamenten bleibt ein großer Spielraum, den sie allerdings auch selbstbewusster gegenüber der Regierung nutzen müssen.
Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort geholfen zu haben und stehe Ihnen für weitere Nachfragen gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Dagmar Roth-Behrendt