Frage an Clemens Binninger von Martin S. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Binninger,
ich schreibe Ihnen als Mitglied des Innenausschusses zum Thema Bundestagswahlrecht.
Bei der Bundestagswahl ´05 erfolgte ja im WK "Dresden II" eine um 14 Tage verzögerte Nachwahl, weil eine aussichtslose Direktkandidatin kurz vor dem eigentlichen Wahltermin verstarb. Das Wahlergebnis der anderen Wahlkreise wurde bekannt und das Paradoxon des negativen Stimmgewicht für jedermann erlebbar: Die CDU warb dafür, anderen Parteien die Zweitstimme zu geben, um selbst ein Überhangmandat mehr ergattern zu können, die (damaligen) Wahlkampfgegner gaben Empfehlungen dafür, der CDU die Zweitstimme zu geben, damit eben dies nicht geschieht.
Damals wurde gefordert, das Wahlrecht dahingehend zu ändern, dass es z.B. zukünftig Ersatzpersonen für Direktkandidaten gibt, um die Notwendigkeit solcher Nachwahlen unwahrscheinlicher zu machen. Gibt es hierzu Initiativen des Innenausschusses, bestimmter Fraktionen, des Ältestenrats oder anderen? Man hört nämlich hiervon nichts mehr.
Ein weiteres Problem bzgl. Überhangmandaten sehe ich in folgender Tatsache: Scheiden direkt gewählte Abgeordnete aus Bundesländern, in denen deren Partei Überhangmandate errang, aus dem Bundestag aus, so gibt es keine Nachrücker. Ihr Parteikollege Matthias Wissmann zog es Mitte letzten Jahres vor, aus dem Bundestag auszuscheiden, um als Präsident des Verbandes der Automobilindustrie Lobbyarbeit zu machen. Seither hat der WK Ludwigsburg keinen Abgeordneten mehr!
Vor wenigen Wochen verstarb ihr Parteikollege Jo Krummacher. Seither hat der WK "Stuttgart I" keinen Bundestagsabgeordneten mehr!
Zudem verschiebt sich ja auch das Kräfteverhältnis der Fraktionen untereinander, ohne dass sich am "Wählerwillen" etwas geändert hat. Zur Zeit ist CDU hiervon betroffen, in der letzten Legislaturperiode war es die SPD, deren Fraktion durch ähnliche Umstände schmolz.
Ich erachte dies als groben Systemfehler unseres Wahlsystems. Gibt es Bestrebungen, hier etwas zu ändern, und wenn ja, was?
mfG
M.Schubert
Sehr geehrter Herr Schubert,
ich danke Ihnen für Ihre Frage zum Bundestagswahlrecht.
Im Zusammenhang mit Ihrer ersten Frage zur Nachwahl in Dresden 2005 ist das Gesetz zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts (Bundestagsdrucksache 16/7461) aus dem Dezember 2007 von Bedeutung. Mit dem Gesetz wurde § 43 des Bundeswahlrechts geändert, so dass es in Zukunft möglich sein wird, eine Nachwahl am Tag der Hauptwahl durchzuführen, wenn ein Wahlkreisbewerber nach der Zulassung des Wahlvorschlages, aber noch vor der Wahl stirbt. Demnach kann eine Nachwahl am Tag der Hauptwahl stattfinden, wenn noch rechtzeitig ein neuer Kreiswahlvorschlag eingereicht ist, vom Kreiswahlausschuss zugelassen wird und noch keine Wahlscheine und Stimmzettel ausgegeben worden sind.
In Bezug auf die Thematik des "negativen Stimmgewichts" hat es in dieser Legislaturperiode keine Wahlrechtsreformen gegeben. Dass es hier zu paradoxen Effekten einer individuellen Wahlentscheidung kommen kann oder sich Mehrheitsverhältnisse durch das Ausscheiden von Abgeordneten aus Ländern mit Überhangmandaten verschieben können, sind Folgen unseres Bundestagswahlsystems mit Erst- und Zweitstimme. Die Möglichkeiten, die derzeit diskutiert werden, um die Effekte des negativen Stimmgewichts zu verhindern - sei es die Verrechnung von Mandaten zwischen den Bundesländern oder ein Wahlsystem mit nur einer Stimme - überzeugen mich nicht.
Bei der Diskussion um eine Wahlrechtsänderung sind für mich deshalb zwei Kriterien ausschlaggebend. (1) Die Frage der Verhältnismäßigkeit: Sind die Verzerrungseffekte so gravierend, dass sie eine tiefgreifende Änderung des Wahlrechts notwendig machen? Als "groben Systemfehler" würde ich den aktuellen Zustand vor diesem Hintergrund nicht bezeichnen. (2) Die Frage der verfassungsrechtlichen Bewertung: Verstößt die aktuelle Regelung gegen die im Grundgesetz verankerten Wahlrechtsgrundsätze oder andere gleichrangige Regelungen? Dies ist nicht der Fall. Das Bundesverfassungsgericht hat am 10. April 1997 in seiner Grundsatzentscheidung zur Verfassungskonformität von Überhangmandaten entschieden, dass Überhangmandate mit dem Grundgesetz vereinbar sind. In diese Entscheidung wurden auch die Effekte des negativen Stimmgewichts einbezogen. Aufgrund dieses Urteils sieht die Regierungskoalition bisher keinen Anlass, eine entsprechende Gesetzesänderung vorzunehmen.
Am 16. April 2008 wird vor dem Bundesverfassungsgericht eine mündliche Verhandlung zweier Wahlprüfungsbeschwerden stattfinden, die das negative Stimmengewicht zum Gegenstand haben. Das Urteil in diesem Verfahren bleibt abzuwarten.
Ganz unmittelbare Auswirkungen, so wie von Ihnen in Stuttgart und Ludwigsburg angesprochen, begegnen wir auf Parteiebene dadurch, dass z. B. die beiden Stuttgarter Wahlkreise von mir mitbetreut werden.
Gestatten Sie mir abschließend den Hinweis, dass Sie mich auch direkt per Mail unter clemens.binninger@bundestag.de erreichen können. Informationen über meine Arbeit finden Sie auf meiner Homepage (www.clemens-binninger.de). Dort finden Sie auch meine übrigen Kontaktdaten.
Mit freundlichen Grüßen
Clemens Binninger