Frage an Clemens Binninger von Marcel U. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Binninger,
in Bezug auf ihre Antwort an H. B. vom 4.10 möchte ich Ihnen eine Frage zu Ihrem Demokratieverständnis stellen.
Sie schreiben: "Es gab Sitzblockaden, es wurden Barrikaden gebaut, es wurden Gegenstände auf die Polizei geworfen und ein Polizeifahrzeug wurde besetzt. Polizeibeamte wurden von Demonstranten mit Pfefferspray angegangen. All das hat mit Demonstrationsfreiheit nichts zu tun."
Bezüglich dem Werfen von Gegenständen und Pfefferspray-Attacken fällt es mir nicht schwer Ihnen zuzustimmen. Dass jedoch Sitzblockaden Ihrer Meinung nach mit Demonstrationsfreiheit nichts zutun haben, halte ich für sehr erstaunlich. Implizieren Sie mit dieser Aussage, dass Sie es für angemessen halten, wenn Teilnehmer einer Sitzblockade von Polizisten mit Wasserwerfern oder Schlagstöcken angegriffen werden? Ist Ihnen das Urteil des Bundesverfassungsgericht bekannt, nachdem Sitzblockaden Versammlungen sind und keine Nötigung mehr darstellen?
Mit freundlichen Grüßen
M. Ullrich
Sehr geehrter Herr Ullrich,
Sie beziehen sich auf eine Antwort von mir zu der viel diskutierten Demonstration gegen Stuttgart 21 am 30. September 2010. Die Antwort stammt vom 11. November 2010. (Herr Bucher richtete seine Frage am 4. Oktober 2010 an mich.) Die von Ihnen angesprochene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 388/05) stammt aber vom 7. März 2011. Sie werden mir also kaum vorhalten wollen, dass ich in meiner Antwort aus dem Jahr 2010 nicht auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2011 eingegangen bin.
Wenn Sie die von Ihnen angesprochene Entscheidung gelesen haben, werden Sie feststellen, dass sich meine Aussagen im Einklang mit der Bewertung des Bundesverfassungsgerichts befinden.
Ich habe seinerzeit Folgendes geantwortet: „Dabei ist zu betonen, dass der ganz überwiegende Teil der Demonstranten ohne Zweifel friedlich gesinnt war und sich auch so verhalten hat. Wir müssen – mit Blick auf die Videos, die die Polizei gezeigt hat – aber ebenso feststellen, dass ein Teil der Demonstranten auch für zunehmende Aggression gesorgt hat. Es gab Sitzblockaden, es wurden Barrikaden gebaut, es wurden Gegenstände auf die Polizei geworfen und ein Polizeifahrzeug wurde besetzt. Polizeibeamte wurden von Demonstranten mit Pfefferspray angegangen. All das hat mit Demonstrationsfreiheit nichts zu tun. Und es war gerade auch diese Aggression, an deren Ende sich die Polizei in die Lage versetzt sah, diesen Einsatz nur noch mit unmittelbarem Zwang zu Ende zu bringen.“
Diese Aussage gilt nach wie vor. Die Polizei muss und wird auch in Zukunft in der Lage sein, Blockaden angemessen und im Rahmen der rechtlichen Vorgaben aufzulösen. Dazu gehört auch die Anwendung unmittelbaren Zwangs. Das stellt das Bundesverfassungsgericht mit der von Ihnen angesprochenen Entscheidung überhaupt nicht in Frage!
Das Bundesverfassungsgericht kommt lediglich zu dem Ergebnis, dass eine Sitzblockade unter bestimmten Umständen nicht als strafbare Nötigung zu werten ist, sondern vom Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz) gedeckt ist. Dem sind aber klare Grenzen gesetzt, nachzulesen in Randnummer 33 der angesprochenen Entscheidung: „Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen.“
Sitzblockaden alleine mögen also keine Nötigung darstellen. Wenn es aber nicht bei Sitzblockaden bleibt, sondern Barrikaden gebaut werden, Gegenstände auf Polizisten geworfen werden, ein Polizeifahrzeug besetzt wird oder Polizeibeamte mit Pfefferspray angegangen werden, hat die Demonstration insgesamt ihren friedlichen Charakter verloren.
Mit freundlichen Grüßen
Clemens Binninger