Frage an Clemens Binninger von Michael P. bezüglich Verkehr
Sehr geehrter Herr Binninger,
mit großem Interesse verfolge ich die Geschehnisse, welche derzeit in Stuttgart von statten gehen. Ich denke, dass vieles für das Projekt S21 spricht. Allerdings sehe ich auch, vorallem in meinem Umfeld, dass das Vertrauen, vorallem von jungen Menschen, in die Politik verloren geht.
Aus meiner Sicht sollten sich die Politiker zusammenraufen und gemeinsam nach Lösungen suchen und nicht immer gegeneinander sprechen.
Nun zu meiner konkreten Frage an Sie: Wie stehen Sie zum Thema "Volksentscheid" wie z.B. zu Themen wie S21 in Deutschland und wie sehen Sie das Ansehen der deutschen Politiker im Land?
Über eine Antwort Ihrerseits würde ich mich freuen.
Freundliche Grüße
Michael Prokein
Sehr geehrter Herr Prokein,
haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage. Ich teile Ihre Einschätzung, dass vieles für Stuttgart 21 spricht. Der in die Jahre gekommene Hauptbahnhof wird ein moderner Durchgangsbahnhof. Fahrzeiten werden kürzer und der Flughafen erhält eine ICE-Anbindung. Wo heute eine Gleiswüste ist, entsteht ein neuer Stadtteil mit Büros, Wohnungen und Grünflächen. All das schafft zahlreiche Arbeitsplätze. Die Kosten verteilen sich auf 10 Jahre Bauzeit und sind eine Investition mindestens für die nächsten 50 Jahre. Kommt das Projekt nicht, werden die Mittel woanders verbaut und Stuttgart wird langfristig von direkten, schnellen Zugverbindungen abgehängt.
Ich nehme es selbstverständlich sehr ernst, wenn in diesen Monaten teilweise zehntausende Menschen gegen Stuttgart 21 demonstrieren – auch wenn das Projekt in vielen Jahren unter Beteiligung der Öffentlichkeit geplant wurde, einwandfrei demokratisch legitimiert und gerichtlich überprüft ist. Zwei Positionen werden dabei an mich als Politiker herangetragen. Einerseits: Der Staat muss angesichts des starken Protests den Bau stoppen und komplett neu planen. Andererseits: Ein Rechtsstaat muss eine demokratisch gefällte und legitimierte Entscheidung umsetzen und den Rechtsanspruch des Bauherrn durchsetzen. Beiden Forderungen kann aber nicht gleichzeitig entsprochen werden. Am Ende hat keiner etwas davon, wenn sich die Proteste weiter radikalisieren. Deshalb ist es gut, dass Landesregierung und Bahn auf die Stuttgart 21-Gegner zugehen und mit Heiner Geißler einen Vermittler eingesetzt haben. Ich bin zuversichtlich, dass auf diesem Weg eine Lösung gefunden werden kann.
Mit Blick auf Ihre Frage ist grundsätzlich zu betonen, dass Demokratie davon lebt, dass in allen Fragen um die bessere Lösung gerungen wird. Dabei wird versucht, am Ende möglichst viele Interessen zu berücksichtigen und einen tragfähigen Kompromiss zu finden. Mit Blick auf die letzten 60 Jahre ist dies unserer parlamentarischen Demokratie – bei allen Meinungsverschiedenheiten und politischen Differenzen – gut gelungen.
Ich bin aber skeptisch, ob ein Volksentscheid dazu beitragen kann, dass mehr Interesse an der Politik geweckt wird oder dass gegensätzliche Positionen in eine Entscheidung eingebunden werden. Wenn Sie die Beteiligung an Volksentscheiden in den Bundesländern betrachten, werden Sie feststellen, dass bei keinem Entscheid auch nur annähernd eine ähnlich hohe Wahlbeteiligung erreicht worden wäre wie bei Landtagswahlen. Und wenn man Diskussionen und den Streit um bessere Lösungen als eine Ursache für Politikverdrossenheit sieht – wie Sie es andeuten – dann wären Volksentscheide gerade nicht dazu geeignet, dem zu begegnen. Im Gegenteil: Naturgemäß können die meisten Volksentscheide nur einfache „Ja“ oder „Nein“-Antworten anbieten und so unterschiedliche Interessen eben nicht zu gemeinsamen Lösungen zusammenzuführen. Vor diesem Hintergrund wird aus meiner Sicht auch die schlichtende Wirkung eines möglichen Volksentscheids zu Stuttgart 21 deutlich überschätzt.
Insgesamt kann auf Landes- und Kommunalebene, wo es um Problemlösungen vor Ort geht, ein Volksentscheid ein sinnvolles Instrument sein. Eine Bürgerbeteiligung über einen Volksentscheid ist aber aus meiner Sicht nicht mehr möglich, wenn Entscheidungen von gewählten Volksvertretern schon getroffen sind, sich daraus Rechtsansprüche ableiten und auf dieser Basis Verträge geschlossen wurden.
Auf Bundesebene könnten aus meiner Sicht Volksentscheide oder ähnliche Verfahren den oft komplexen Fragen unserer Gesellschaft kaum gerecht werden. Das würde unser ganz bewusst auf Kompromiss und Interessenausgleich ausgelegtes parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren möglicherweise stark verändern und würde insbesondere zu Lasten von Minderheiten und gesellschaftlich benachteiligten Gruppen gehen. Gerade die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beweist, dass unser System der Volksvertretung ein sehr erfolgreiches und stabiles Modell ist. Aus gutem Grund haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes auf plebiszitäre Elemente in der Verfassung verzichtet.
Mit freundlichen Grüßen
Clemens Binninger