Frage an Clemens Binninger von Johannes K. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Binninger,
am heutigen Tage (2. März 2010) hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über die umstrittene Vorratsdatenspeicherung gesprochen. Wie Sie sicherlich wissen, ist das Gesetz für "nichtig" erklärt worden, d. h. auch für rückwirkend ungültig. Das BVerfG hat damit auf die schärfste Sanktionsmöglichkeit, die ihm zur Verfügung steht, zurückgegriffen.
Als Mitglied des Auschusses für Inneres, sowohl in dieser als auch in der vergangenen Legislaturperiode, waren Sie an der Ausabeitung dieses Gesetzes, das nun für verfassungswidrig erklärt wurde, beteiligt. Ich bitte sie daher um die Beantwortung der folgenden Fragen:
1. Wie kann es sein, das ein Gesetz, dass so weitreichende Einschnitte in die Bürgerrechte vorsah, ohne eine ausreichende verfassungsrechtliche Prüfung ausgearbeitet wurde?
2. Wie kann es sein, dass ein solch offensichtlich rechtswidriges Gesetz von den (teilweise promovierten) Juristen im Ausschuss nicht als solches erkannt wird?
3. Nach der Kassierung des Gesetzes in seiner jetzigen Form: Sind sie der Meinung, es wird ein neues Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung benötigt? Wenn ja, welche Veränderungen sollten Ihrer Meinung nach einfließen?
4. Wie kann in Zukunft sichergestellt werden, dass ein solch rigides Eingreifen des BVerfG nicht mehr nötig wird? Könnten Sie sich vorstellen, neue "Qualitätskontrollen" für Gesetze (z. B. in Form von weiteren, unabhängigen juristischen Prüfungen) einzuführen?
Mit freundlichen Grüßen aus Schwaben
Johannes König
Sehr geehrter Herr König,
haben Sie vielen Dank für Ihren Beitrag.
Erlauben Sie mir vorab einen Hinweis, weil Sie anscheinend großen Wert darauf legen, dass Sie mich als Mitglied des Innenausschusses des Deutschen Bundestages anschreiben: Der Entwurf für das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung aus dem Jahr 2007 stammte aus dem SPD-geführten Bundesjustizministerium von Brigitte Zypries und wurde federführend vom Rechtsausschuss beraten. Selbstverständlich hat der Innenausschuss mitberaten und ich habe dem Gesetz aus inhaltlicher und fachlicher Überzeugung zugestimmt.
Zu Ihrer ersten und zweiten Frage: Natürlich wurde der Gesetzentwurf, wie alle Gesetzentwürfe, umfassend auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft. Die Bundesregierung und der Deutscher Bundestag sind seinerzeit zu dem Schluss gekommen, dass die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung verfassungskonform ausgestaltet ist.
Sie unterstellen in Ihren Fragen aber offenbar, dass der Gesetzgeber, wenn er nur ausreichend prüft, ganz eindeutig sagen könnte, was grundgesetzeskonform ist und was nicht. Dem ist nicht so. Letztlich geht es um die Frage, wie das Grundgesetz ausgelegt wird. Auch die Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts waren sich bei der aktuellen Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung nicht einig. Es gab bei dem Urteil zwei abweichende Voten. Bei der Frage, ob das Gesetz für nichtig zu erklären ist, stimmte der Erste Senat sogar nur vier zu vier ab.
Ich empfehle in diesem Zusammenhang die Lektüre des Urteils zur Vorratsdatenspeicherung (http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20100302_1bvr025608.html) Die Sondervoten der Verfassungsrichter Schluckebier und Eichberger verdeutlichen, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit vom Bundesverfassungsgericht nicht zwangsläufig so zu bewerten gewesen wäre, wie die Mehrheit des Ersten Senats dies im Urteil getan hat. Ich möchte beispielhaft nur zwei Aspekte aus dem Sondervotum des Richters Schluckebier nennen:
Schluckebier betont ganz grundsätzlich (Rn. 318): "Effektive Aufklärung von Straftaten und wirksame Gefahrenabwehr sind daher nicht per se eine Bedrohung für die Freiheit der Bürger, indessen nicht ohne Maß und Grenze statthaft. Sie sind im Rahmen des Angemessenen und Zumutbaren geboten, um die Inanspruchnahme auch der Grundrechte abzusichern und die Rechtsgüter des Einzelnen zu schützen. Der Bürger muss sich im Rechtsstaat auf effektiven Schutz durch den Staat ebenso verlassen können, wie auf den Schutz gegen den Staat."
Auch betont Schluckebier (Rn. 336), dass es "unter Rückgriff auf eine ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nahe [gelegen hätte], dem Gesetzgeber eine Frist für eine Neuregelung zu setzen und die bestehenden Vorschriften in Anlehnung an die Maßgaben der vom Senat erlassenen einstweiligen Anordnungen für vorübergehend weiter anwendbar zu erklären. [...] So werden nun einstweilen bis zu einer Neuregelung erhebliche Defizite für die Gefahrenabwehr und bei der Aufklärung auch schwerer Straftaten zu besorgen sein und in Kauf genommen."
Zu Ihrer dritten Frage: Ja. Wir brauchen ein neues Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Zum einen liegt dem Gesetz eine EU-Richtlinie zugrunde und Deutschland ist verpflichtet, sie in nationales Recht umzusetzen. Zum anderen liegt es im elementaren Interesse unserer eigenen Sicherheit, dass unsere Sicherheitsbehörden unter engen Voraussetzungen auf Telekommunikationsdaten zugreifen können, wenn sie zur Strafverfolgung benötigt werden. Zur Veranschaulichung: Nach Auskunft des Bundeskriminalamtes wurden 2009 rund 38.000 Straftaten im virtuellen Raum verfolgt. In 80 Prozent der Fälle war es notwenig, auf Vorratsdaten zuzugreifen.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Übrigen eindeutig entschieden, dass die Vorratsdatenspeicherung und die Nutzung der Vorratsdaten durch die Sicherheitsbehörden grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Wir werden also das Urteil genau auswerten und dann prüfen, wie die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in einem neuen Gesetz berücksichtigt werden können. Das Urteil lässt dem Gesetzgeber insgesamt aber wenig Gestaltungsraum.
Zu Ihrer vierten Frage: Gesetzentwürfe werden intensiv auf ihre Auswirkungen in der Praxis und auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. Dazu wird bei Bedarf auch externer Sachverstand zur Beratung hinzuzogen. Ich halte es aber für eine vereinfachte Sicht der Dinge, zu glauben, dass das Parlament in seiner Gesetzgebungskompetenz vorab durch eine Institution oder Instanz zur "unabhängigen" Prüfung von Gesetzentwürfen eingeschränkt werden kann.
In Einzelfällen kann es immer dazu kommen, dass der Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht grundgesetzliche Normen unterschiedlich auslegen. Dabei gab und gibt es sowohl im Bundestag wie unter den Richtern des Bundesverfassungsgerichts auch immer wieder unterschiedliche Bewertungen. Dass so etwas möglich ist, zeichnet unsere Demokratie, unseren Rechtsstaat und unsere Gewaltenteilung aus, ist aber keinesfalls ein Argument, um die Arbeit des Parlaments in Frage zu stellen.
Mit freundlichen Grüßen
Clemens Binninger