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Claudia Roth
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Karin M. •

Frage an Claudia Roth von Karin M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Roth,

mich interessiert Ihre Haltung zur Einführung einer bundesweiten Volksabstimmung als Instrument einer direkten Demokratie.

Mit freundlichem Gruß

Karin Moritz

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau Moritz,

beim Thema Instrumente direkter Demokratie ist die grüne Partei seit langem mit großer Leidenschaft dabei. Denn Deutschland ist mittlerweile das einzige Land in Europa, in dem es keine direkten Beteiligungsmöglichkeiten bei Sachfragen auf Bundesebene gibt. Die überwiegende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wollen bei Sachfragen unmittelbar mitentscheiden. 85 Prozent der Befragten (so eine Emnid-Umfrage vom 1.11.2004) glauben, dass Referenden das politische Interesse der Deutschen erhöhen würden und immerhin noch 69 Prozent meinen, dass sie geeignet wären, wieder mehr Vertrauen in die Politik zu schaffen.

Ein Politikmonopol der politischen Parteien darf es dagegen nicht geben. Bündnis 90/Die Grünen sehen Bürgerinnen und Bürger nicht als "Wahlvolk", sondern fordern sie zur aktiven Teilnahme auf. Gerade Themen, die von Berufspolitikern vernachlässigt wurden, konnten auf diese Weise in die Gesetzgebung eingebracht werden. Politikverdrossenheit, Parteienmüdigkeit und der verbreitete Eindruck "die da oben machen eh´ was sie wollen", sind alarmierende Signale für Politiker aller Parteien.

Am 7. Juni 2002 hat der Bundestag über die Koalitionsvorlage "Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz" abgestimmt. Dabei stimmte die große Mehrheit der Abgeordneten für das Gesetz (348 ja / 199 nein), es erreichte aber nicht die nötige 2/3-Mehrheit. Diese ist für Grundgesetzänderungen im Bundestag und im Bundesrat notwendig. SPD, Grüne und PDS stimmten geschlossen dafür. Die FDP brachte einen Änderungsantrag ein, lediglich die Volksinitiative als ersten Schritt einzuführen, der aber wegen der Totalverweigerung der Union ebenfalls keine Chance hatte. Dennoch stimmten 14 FDP-Abgeordnete für das rot-grüne Gesetz. Die Union blockierte und verweigerte damit den Bürgerinnen und Bürgern mehr Mitsprache. In der folgenden Legislaturperiode. haben wir unseren Gesetzentwurf gemeinsam mit der SPD weiterentwickelt.

Unser Gesetzentwurf enthielt folgende Regelungen: Volksinitiative: 400.000 Stimmberechtigte können einen Gesetzentwurf in den Bundestag einbringen. Der Bundestag muss sich mit diesem Gesetzentwurf befassen. Die Vertrauensleute der Volksinitiative haben das Recht auf Anhörung.

Volksbegehren: Hat das Parlament den eingebrachten Gesetzentwurf nicht innerhalb von acht Monaten verabschiedet, können die Vertrauensleute der Volksinitiative die Durchführung eines Volksbegehrens einleiten. 5 Prozent der Stimmberechtigten, d. h. rund 3 Millionen Bürgerinnen und Bürger müssen innerhalb von 6 Monaten das Volksbegehren unterstützen.

Volksentscheid: Ist das Volksbegehren erfolgreich, findet innerhalb von sechs Monaten ein Volksentscheid statt. Ein Gesetz kommt dann durch Volksentscheid zu Stande, wenn ihm die Mehrheit der Abstimmenden zugestimmt hat, sofern diese Mehrheit mindestens 15 Prozent der Stimmberechtigten entsprich (Zustimmungsquorum). Verfassungsänderungen erfordern ein höheres Zustimmungsquorum von 25 Prozent der Stimmberechtigten.

Es war vorgesehen, dass die Bundesregierung, der Bundesrat oder der Bundestag selbst einen Antrag stellen können, um verfassungsändernde Gesetze dem Volk zur Entscheidung vorzulegen. Stimmen 2/3 der Abgeordneten des Bundestags dem Antrag zu, wird dieses Gesetz dem Volk zur abschließenden Entscheidung vorgelegt.

Föderalismus berücksichtigt: Der Gesetzentwurf würde der föderativen Verfassung der Bundesrepublik gerecht. Nach Schweizer Vorbild werden bei Verfassungsänderungen und bei Gesetzen, die im parlamentarischen Verfahren der Zustimmung des Bundesrates bedürften (zustimmungspflichtige Gesetze), die Stimmen zweifach gezählt: Das Ergebnis der Abstimmung in jedem einzelnen Bundesland gilt dabei als Abgabe seiner Bundesratsstimmen. Bei zustimmungspflichtigen Gesetzen muss danach die Mehrheit der Abstimmenden in so vielen Ländern dem Gesetzentwurf zustimmen, dass deren Stimmen einer Mehrheit im Bundesrat entsprechen. Bei Verfassungsänderungen ist eine Mehrheit in so vielen Ländern erforderlich, dass deren Stimmen einer Zweidrittelmehrheit im Bundesrat entsprechen.

Verfahrensregelungen: Die vorgesehenen langen Fristen (ca. zwei Jahre vom Start der Volksinitiative bis zum Volksentscheid) ermöglichen einen gründlichen Diskussionsprozess. Das Parlament hat die Möglichkeit, einen eigenen Gesetzentwurf zum selben Gegenstand mit zur Abstimmung im Volksentscheid zu stellen (Konkurrenzvorlage).

Das Bundesverfassungsgericht kann die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Volksbegehrens schon ab dessen Beantragung überprüfen (sog. ex-ante-Kontrolle). Mögliche Antragsteller sind die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestags. Somit können langwierige Diskussionen und aufwändige Abstimmungen über gegebenenfalls verfassungswidrige Vorlagen frühzeitig vermieden werden. Ausnahmen von der Volksgesetzgebung: Grundsätzlich sollen sich Volksentscheide auf alle Politikbereiche beziehen dürfen. Ausnahmen sind lediglich das Haushaltsgesetz selbst, Abgabengesetze und die Wiedereinführung der Todesstrafe. Finanzwirksame Volksinitiativen sind dagegen ausdrücklich zulässig.

Die neuen Beteiligungsrechte müssen sich ebenso wie parlamentarische Initiativen und Entscheidungen an den Grundrechten, den unveränderlichen Grundentscheidungen der Verfassung sowie den übrigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen ausrichten.

Anfang November 2004 haben unser damaliger Fraktionsvorstand (Krista Sager) und Franz Müntefering einen Brief an Merkel, Stoiber und Westerwelle gerichtet, in dem sie die Chancen einer Einigung zum Thema "Volksentscheid ins Grundgesetz" abgefragt haben. Denn uns ist und war immer wichtig, bei Thema Volksentscheid eine Gesamtlösung zu erreichen und nicht nur eine Lösung zum Beispiel zur EU-Verfassung. Die FDP hat signalisiert, dass sie unseren Gesetzentwurf unterstützen würde. Einzige Bedingung war, dass explizit ein Referendum zur EU-Verfassung erwähnt wird. Da die Union unser Angebot abgelehnt hat, über diesen Gesetzentwurf zügig zu verhandeln, haben wir uns entschlossen, den Gesetzentwurf zu diesem Zeitpunkt nicht einzubringen.

Ein weiteres Ziel ist es, in Zukunft auch europaweite Volksentscheide zu ermöglichen, dazu gab es von uns und von den Grünen im Europaparlament Initiativen, bei wichtigen EU-Fragen sollen alle Bürgerinnen und Bürger in einem europaweiten Volksentscheid mitbestimmen dürfen. Nationale Referenden schaden der Sache Europas, da bei diesen Abstimmungen meist nicht Europa im Mittelpunkt der Debatten steht, sondern jeweils innenpolitische Diskussionen.

Wie Sie sehen, blockiert die Union schon seit langem jeden Fortschritt im Bereich direkte Demokratie.

Mit freundlichen Grüßen

Das Büro-Team von Claudia Roth

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