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Frage von Hubertus H. •

Frage an Claudia Roth von Hubertus H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Roth,

in Ihrer Antwort auf meine Frage vom 04.02.2008 um Ihre Meinung zu einem Leserbrief unterstellen Sie mir ein Weltbild, das zu kommentieren keine parlamentarische Tätigkeit sei. Die darin geäußerten Ansichten seien "Abwehrkämpfe von vorgestrigen und in die Defensive geratenen Ideologien".

Ich verwahre mich dagegen und frage Sie:

Mit welchem Recht nehmen Sie in Anspruch, dass nur die "Grünen" über die richtige Ideologie - besser: die richtigen Ideen verfügen, die mit den Fragen und Herausforderungen der (unbestritten notwendigen) Integration Zugewanderter verbundenen sind?

Glauben Sie wirklich, dass eine Partei wie die Ihre, die nach den Ergebnissen der Bundestagswahl 2005 gerade einmal über 5,4 % Erst- und 8,1 % Zweitstimmen bei einer Wahlbeteiligung von 77,7 % erhielt, somit nur maximal knapp 6,3 % aller Wahlberechtigten für Ihre Ideologie einnehmen konnte, eine abweichende Auffassung zum Thema und zur jetzigen Lage eines großen Teils der mehr als 93 % der mündigen Bürger dieses Landes negieren kann?

Welche Möglichkeiten sehen Sie außer den "hunderten von Leserbriefen in den Tageszeitungen" noch, dass sich - leider noch viel zu - Wenige aus der schweigenden Mehrheit mit Antithesen u.a. zu diesem Thema so artikulieren, dass durch eine breitere Diskussion eines Tages doch noch eine Synthese mit größerer Akzeptanz der Lageentwicklung erwächst?

Glauben sie nicht auch, dass die vermeintliche Politikverdrossenheit nicht noch mehr zur "Politikerverdrossenheit" verkommt, weil die Politiker allgemein und m.E. auch Sie auch zu diesem Thema nur noch "über den Wolken schweben" und in den Klüngeln Gleichgesinnter agieren, statt "dem Volk hin und wieder aufs Maul zu schauen"?

Mit freundlichen Grüßen
Hubertus Höhn

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Antwort von
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Sehr geehrter Herr Höhn,

für eine Parteipolitikerin und grüne Abgeordnete ist es selbstverständlich, das eigene Parteiprogramm für das beste, zukunftsfähigste und realistischste politische Programm in der gegebenen politischen Landschaft zu halten. Sonst müsste man sich einer anderen Programmatik oder Partei zuwenden. Unabhängig davon, welche Ergebnisse die Grünen bei Wahlen erzielen, ist die von Ihnen aufgestellte Rechnung falsch und basiert auf groben Denkfehlern. Die Aufstellung, 93% der mündigen Bürger versus 7% grüne Wähler, entspricht nicht der Realität. Demokratische Auseinandersetzung und politische Konkurrenz sind nicht mit einer Frontaufstellung in klassischen Kriegen vergleichbar.

Es gibt grüne und urgrüne Themen, bei denen die Grünen auf Zustimmung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung stoßen. Außerdem darf man nicht vergessen, dass auch große Massen und Gruppen sich gewaltig irren können, wie wir es häufig bei der Wahl von Parteien erfahren, die nicht in der Lage sind, Probleme zu lösen und trotzdem gewählt werden. Es reicht nicht, sich zum Sprecher der schweigenden Mehrheit gar des Volks zu erklären. Die Mehrheit geht trotz aller Behauptungen zur Wahl und tut somit ihren Willen kund. So ist die Rede von der schweigenden Mehrheit eine Anmaßung. Solange diese selbstbehauptete Vertretung der schweigenden Mehrheit keinen politisch-materiellen Ausdruck findet und es für die Überprüfung dieser Behauptungen an Mechanismen und Kriterien fehlt, bleiben sie bloße Sprechblasen.

Niemand würde die Tatsache der Politikverdrossenheit in Teilen der Bevölkerung ernsthaft bestreiten wollen. Aber Langzeitbeobachtungen belegen große Verschiebungen und Bewegungen unter denjenigen, die als politikverdrossen bezeichnet werden. Die Gruppe ist nicht statisch. Persönliche, gesellschaftspolitische, soziale und wirtschaftliche Änderungen sind die wichtigsten Ursachen dieser Dynamik. Unredlich und unglaubwürdig sind deshalb Versuche, Politikverdrossenheit zum Anlass zu nehmen, um Demokratie, demokratische Werte, Regeln und Grundsätze in Frage zu stellen. Alltägliche Politikerschelte ist kein Politikersatz. Wir haben es häufig am Beispiel der rechtsextremistischen Gruppierungen und Parteien gesehen, die Politikverdrossenheit und die schweigende Mehrheit zu ihrem einzigen politischen Kapital bei den Wahlen gemacht und dann aber nach den Wahlen auf der ganzen Linie versagt haben.

Mit freundlichen Grüßen

Das Büro-Team von Claudia Roth

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