Frage an Claudia Roth von Reinhard H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Roth,
Am 3. Oktober letztes Jahr wurde im ganzen Land der 17. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung gefeiert.
Wann wird der Artikel 146 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland endlich umgesetzt, der da lautet:
>>Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.<<
Wann dürfen wir endlich wieder selbst mitbestimmen, welche Gesetzte wir zu befolgen haben.
Wenn wir noch gar keine Verfassung haben, wieso gibt es dann ein Bundesverfassungsgericht, und Klagen wegen Verfassungswidrigkeit?
Vielen Dank im Voraus für die Antwort.
Mit freundl. Gruß
Reinhard Heindl
Sehr geehrter Herr Heindl,
Ihre Darstellung übersieht und unterschätzt somit einige Entwicklungen, die unser Land im Vereinigungsprozess durchgemacht hat. Der Artikel 146 GG wurde 1990 durch das Gesetz zum Einigungsvertrag erheblich geändert und an die Deutsche Vereinigung angepasst. Das war seinerzeit ein Kompromiss der politisch Verantwortlichen.
Aus der früheren Aufforderung des Grundgesetzes, die deutsche Einheit mit einer neuen Verfassung zu beschließen, wurde eine Formulierung, die die Deutsche Einheit ausdrücklich als Tatsache (nach Artikel 23 GG alter Fassung durch Beitritt der neuen Länder) anerkennt. Dadurch wird die Einheit nicht mehr die „zwingende“ Voraussetzung für die neue Verfassung. Trotzdem ist eine Feststellung übriggeblieben, dass eine neue Verfassung das Grundgesetz ablösen kann. So wurde 1990 die Auseinandersetzung um eine neue Verfassung beendet. Wir Grünen hatten damals gefordert, den Vereinigungsprozess über Artikel 146 (Nationalversammlung, neue Verfassung) zu gestalten. Helmut Kohl und seine Regierungskoalition wollten den bloßen Beitritt der neuen Länder nach Art. 23. Dies hat sich unter anderem mit Hilfe einer Mehrheit in der DDR-Volkskammer durchsetzen können.
Nach Ansicht einer Mehrheit unter den hiesigen Staatsrechtlern sind Verfassungsänderungen nach Artikel 146 jetzt an die Beschränkungen für Verfassungsänderungen in Artikel 79 des Grundgesetztes gebunden. Damit bewegen wir uns bei der neuen Verfassung praktisch auf dem Boden ganz normaler Grundgesetzänderungen, die es in der Bundesrepublik immer wieder gegeben hat (zuletzt die Föderalismusreform).
Mit der Deutschen Einheit hat diese Diskussion eine andere Wende genommen und ist jedenfalls für einen von heute aus überschaubaren und politisch einschätzbaren Zeitraum entschieden worden.
Mit freundlichen Grüßen
Claudia Roth