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Claudia Roth
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Frage von Kurt W. •

Frage an Claudia Roth von Kurt W. bezüglich Innere Sicherheit

Sehr geehrte Frau Roth,

demnächst sind ja in meinem Bundesland Hamburg Wahlen und auch in diesem Zusammenhang würde ich gerne Ihre Wertung und die Position Ihrer Partei zu den Vorkommnissen der Jugend- und Ausländergewalt der vergangen Zeit erfahren. Leider konnte ich bislang keine klaren Aussagen (oder nur sehr einseitige Stellungnahmen) von Ihnen und Ihrer Partei dazu finden.

Mit freundlichem Gruß

Kurt Wößner

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Wößner,

die brutalen und menschenverachtenden Überfälle von München, Frankfurt und anderen Städten sind kriminelle Gewalttaten, die mit aller Härte des Gesetzes und mit streng rechtsstaatlichen Mitteln bestraft und geahndet werden müssen. Die Opfer verdienen unsere Solidarität und die Unterstützung des Staates. Jeder kriminelle Überfall, jeder Raub, jeder Diebstahl und jede Körperverletzung ist ein Fall zu viel und verletzt die Würde des Einzelnen. Deshalb müssen Gewalttäter - auch junge Gewalttäter - hart angefasst werden, was auch im Regelfall passiert. Die Justiz darf aber mit diesen Fällen nicht allein gelassen werden, denn sie kann selbst mit schnelleren Strafen als bisher nicht reparieren, was vorher schiefgegangen ist. Das gute und weltweit vorbildliche deutsche Jugendstrafrecht erfährt in der Praxis eine desaströse Ausführung, weil viele Bundesländer es kaputtsparen. Es wäre zynisch, darauf hinzuweisen, dass die Gewaltkriminalität ausweislich der Kriminalstatistik seit Jahren sinkt und dass Deutschland noch nie in seiner Geschichte ein so sicheres Land war wie heute. Das ist richtig und könnte zur Versachlichung der Debatte beitragen, hilft aber weder den Opfern dieser Gewaltverbrechen, noch denen, die einfach Angst haben. Es ist aber genauso zynisch und schamlos, den Leuten weiszumachen, die Gewaltkriminalität sei maßlos angestiegen und höhere Höchststrafen seien das Allheilmittel, um Gewalttaten einzudämmen und jugendliche Täter von Gewalt abzuhalten.

Bereits heute kann das Jugendstrafrecht länger und härter strafen als das Erwachsenen-Strafrecht, aber es kann nicht die Zeit ignorieren, die für Erziehung notwendig ist und sie gegen die Zeit für die Sühne aufrechnen. Das Jugendstrafrecht gibt dem Richter schon heute viele Möglichkeiten, auch ungewöhnliche Strafen anzuwenden. Man kann jungen Leuten zum Beispiel nach einem Raub oder einer Körperverletzung auch den Führerschein wegnehmen; das geht bei Erwachsenen nicht. Und die nun geforderten so genannten Warnschussarreste sind längst möglich, jedoch ohne Nachweis eines besonderen Erfolges. Wie Sie sehen, bietet das Jugendstrafrecht viele Instrumentarien zur Verhinderung und Bestrafung von Gewalttaten. Wenn aber Politiker wie Roland Koch durch Einsparungen und Streichungen bei der Polizei, Justiz, Gerichten und Jugendhilfe ein fortschrittliches Jugendstrafrecht regelrecht an die Wand fahren, dann machen sie sich fast mitschuldig.

Die von Roland Koch losgetretene Kampagne „Gegen Jugendkriminalität und für mehr Sicherheit“ ist ein beschämendes Beispiel, wie die oben erwähnten Tatsachen verschwiegen und mit welcher Heuchelei und Doppelzüngigkeit Sündenböcke für das eigene Versagen gesucht werden. Deshalb halten wir die Kampagne von Koch und das Aufgreifen seiner Thesen in Hamburg oder anderswo für eine unverantwortliche Politik, die mit dröhnendem Populismus und ohne Grundsätze auf Stimmenfang geht. Koch & Co. zeigen wieder einmal, was Gift für die politische Kultur in unserem Land ist. Sie wollen damit kurz vor den Wahlen von ihrer gescheiterten Bildungspolitik und von ihrem Versagen bei der Lösung der Probleme des Landes ablenken und die notwendige Auseinandersetzung beispielweise über das Thema Mindestlohn vermeiden.

Auch das Thema „Ausweisung krimineller Ausländer“ kommt aus dem Arsenal der vergangenen Wahlkämpfe. Teile der politischen Klasse sind immer noch nicht in der Realität unserer Einwanderungsgesellschaft angekommen. Die Rede von Gästen und wie sie sich beim Gastgeber zu benehmen haben, ist eine altbackene Debatte, die niemand mehr Ernst nehmen kann. Mit dem Dogma "Deutschland ist kein Einwanderungsland" ist keine Politik mehr zu machen. Dass die Bundesregierung diese Tatsache anerkannt hat, lässt daran ablesen, dass sie nun Integrationsgipfel und Islamkonferenzen veranstaltet. Integrationspolitik war jahrzehntelang kein Begriff für die meisten Unionspolitiker, entsprechend fanden kaum Integrationsmaßnahmen unter früheren Unions-Regierungen statt. Eine umfassende Bildungsförderung für Einwanderer gab es in den achtziger und neunziger Jahren jedoch nicht - wozu auch, wenn die Familien wieder zurückkehren sollten. Hier liegt eine der Ursachen der heutigen Bildungsmisere und Perspektivlosigkeit unter den Jugendlichen aus Einwandererfamilien. Auch ein Großteil der Uneinsichtigen hat bereits verstanden, dass die so genannten Jugendlichen mit Migrationshintergrund nirgendwohin zurückgehen bzw. zurückgeführt werden können - wenn überhaupt, dann vielleicht in ihr Geburtsstädtchen in der hessischen, bayerischen, baden-württembergischen Provinz oder die bekannten Bezirke in der Hansestadt Hamburg. Diese Jugendlichen sind Jugendliche dieses Landes, welcher Herkunft sie bzw. ihre Eltern auch sein mögen. Dass diese Jugendlichen von manchen Politikern noch immer als „Ausländer“ bezeichnet werden, zeigt eine beispiellose Ignoranz. Auch mit dem Nebelbegriff „Migrationshintergrund“ im Sprachgebrauch, der ja nichts anderes ist als ein Spiegel des Denkens, drücken sich viele Politiker und Behörden weiterhin um die Konsequenzen der Einwanderung: dass nämlich die deutsche Staatsangehörigkeit nicht mehr als altes Blutrecht definiert wird, sondern auch als neu gewähltes, neu begründetes Staatsbürgerrecht, in dem ständige aussondernde Verweise auf ethnische, kulturelle oder religiöse „Hintergründe“ fehl am Platz sind. Die Ethnisierung der Kriminalität und der sozialen Probleme verfolgt offensichtlich die Absicht, vom eigenen Versagen abzulenken und rassistische Ressentiments in bestimmten Segmenten der Gesellschaft zu bedienen. Ständig die ethnische Herkunft der Täter oder die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern in den Vordergrund zu stellen und mit Ausweisungsfantasien dem Problem Herr werden zu wollen, geht an den Realitäten unserer Gesellschaft vorbei und ignoriert rechtsstaatliche Normen im Umgang mit Menschen und ihren Bürger- und Menschenrechten. Deshalb ist jede Kampagne wie die von Roland Koch schäbig und ein Angriff auf die Errungenschaften der Aufklärung.

Bei Kochs Amtsantritt waren die jugendlichen Schläger von Frankfurt zwischen acht und zwölf Jahre alt. Sie sind in Deutschland geboren und haben Schulen besucht, für die Kochs Kultusministerin zuständig gewesen ist. Roland Koch hat als Ministerpräsident massiv in der Bildungspolitik gekürzt, die Landesmittel für die Betreuung jugendlicher Straftäter zusammenstrichen und die Landeszuschüsse für Sicherheitsbegleiter in Frankfurter U-Bahnen. Für die gescheiterte Integration dieser hessischen jugendlichen Straftäter ist jedenfalls Koch mitverantwortlich. Im Falle von Hamburg ist es nicht anders. Wir erinnern uns an Schill und seine Partei, die Ole von Beust seinerzeit zur Macht verholfen hat. Schill und seine Truppe setzten nur auf Schüren von Ängsten und Vorgaukeln einer Sicherheit, die es nirgends gibt. Mittlerweile haben sich die „Schillianer“ endgültig entzaubert, gar als Kriminelle entpuppt.

Gewalt und Kriminalität sind in unserer Gesellschaft zum Glück in hohem Maße geächtet und dürfen nicht bagatellisiert werden. Ihre Ursachen müssen aber umso konsequenter bekämpft werden. Durch Wahlkampfhetze gegen Jugendliche mit oder ohne Migrationshintergrund wird kein Gewaltproblem gelöst. Wichtig ist, dass über diese Fragen und über eine vernünftige Prävention geredet wird, anstatt neue Ausweisungs- und Rückführungsdebatten zu führen, die keine Probleme lösen. Wir brauchen eine ordentliche Polizeipräsenz und zügige Ermittlungen, die aber flankiert werden von neuen Ansätzen in der Integrations-, Sozial- und Bildungspolitik.

Mit freundlichen Grüßen

Claudia Roth

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