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Claudia Roth
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Frage von Frauke W. •

Frage an Claudia Roth von Frauke W. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Fragen an Frau Roth zu ihrem Schreiben v. 15.10.2007

Sehr geehrte Frau Roth,

Vielen Dank für Ihre Antwort vom 15.10.2007. Dazu habe ich noch folgende Fragen:

1. Sie schreiben: "daß politische Scharfmacher und Einmischungsversuche von Politik Marco geschadet und seine Untersuchungshaft möglicherweise sogar verlängert haben."
Wie können Sie sich den Widerspruch erklären, daß das türkische Gericht einerseits als rechtsstaatlich und unabhängig gewertet werden muß, und andererseits sich das gleiche Gericht durch sog. Einmischungsversuche provozieren läßt – zum Nachteil von Marco?

2. Ist es nicht verständlich, daß sich Peter Struck, in dessen Wahlkreis der Junge beheimatet ist, frühzeitig in den Fall eingeschaltet hat?
Und ist es nicht guter (internationaler) Brauch, daß sich eine Regierung um einen in Schwierigkeiten geratenen Staatsbürger im Ausland kümmert?

3. Sie bemerken: "Großen Schaden richten Politiker wie Volker Kauder an, die diesen Fall mit dem EU-Beitritt der Türkei vermischen."
Warum soll deshalb der Schaden für Marco groß sein? Er befindet sich doch in der Obhut eines unabhängigen Gerichts!? Finden Sie nicht auch, daß hier die türkische Seite überzieht? Denn, wer in die EU will, der muß auch EU-Kritik aushalten können.

4. Sie schreiben: "Es ist gut, dass es in der Türkei Gesetze gibt, die Mädchen und Frauen vor sexueller Gewalt schützen und die Justiz entsprechend handelt. Das ist ein wichtiges - auch auf Druck der EU erreichtes - Stück Rechtsstaatlichkeit."
Wie läßt sich aber der Widerspruch erklären, daß es trotz diesem wichtigen Gesetz in vielen Teilen der Türkei immer noch zu Zwangsverheiratungen minderjähriger Mädchen kommt und diese Praxis von der türkischen Justiz weiterhin stillschweigend geduldet wird? Erst kürzlich in der Ferienzeit war dieses Thema auch für in Deutschland lebende türkische Mädchen wieder hochaktuell.

Mit Dank und großem Interesse sehe ich Ihrer Antwort entgegen.

Mit freundlichen Grüßen Frauke Wendel

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau Wendel,

dass die Familie von Marco sich keine öffentliche Einmischung und Druck durch die Politik wünscht, müssen Sie verstehen. Das sollten alle akzeptieren.

Unabhängig davon ist es nicht bloß guter Brauch, sondern das Recht und sogar die Pflicht von Regierungen, sich um ihre Staatsbürger im Ausland zu kümmern. Die Vertretungen vor Ort wissen in der Regel sehr gut, wie dabei verantwortlich vorzugehen ist. Soweit es von den Medien und von der Familie bekannt ist, ist die konsularische Betreuung vor Ort gegeben.

Außerdem gilt: Auch Gerichtsverhandlungen finden nicht in einem Raumschiff, sondern in einem bestimmten Kontext statt. Es verwundert nicht, dass Gerichte, die den Eindruck haben, dass politisch Druck auf sie ausgeübt werden soll, besonders reserviert reagieren und den rechtsstaatlichen Ermessensspielraum, der ihnen zusteht, oft in nur sehr eingeschränkter Weise nutzen. Sie handeln nach dem Schema der penibelsten Regelauslegung, um sich gerade nicht der Kritik auszusetzen, politischem Druck erlegen zu sein. Das ist keine Rechtfertigung des Vorgehens des Gerichts in Antalya, sondern die Antwort auf Ihre theoretische Frage. Auch wir sind der Meinung, dass das Gericht das Verfahren im Falle Marco überzieht und sein Alter und die Tatsache, dass er bis dahin unbescholten gelebt hat, nicht gebührend berücksichtigt.

Die nach wie vor bestehenden Probleme mit und in der türkischen Justiz werden durch eine Reihe anderer Verfahren und zum Beispiel anhängiger Klagen beim europäischen Gerichtshof für Menschenrechte deutlich. Diese Inkompetenz kommt die Türkei teuer zu stehen. Die türkische Politik steht in der Pflicht, dies zu beseitigen.

Es ist kein Widerspruch an sich, dass trotz der Gesetze für den Schutz von Mädchen und Frauen vor sexueller Gewalt Zwangsverheiratungen möglich sind. Wie in anderen Ländern können sich in der Türkei die Gerichte im Falle von Zwangsverheiratungen erst dann einschalten, wenn es eine/n Kläger/in gibt. Solange das nicht der Fall ist, kann kein Gericht von sich aus Menschen verdächtigen und ihnen einen Prozess machen. Aber Gesetze allein können Zwangsverheiratungen nicht verhindern oder bekämpfen. Sie sind nur wirksam im Zusammenspiel mit Bildung, Aufklärung und realistischen Möglichkeiten der Mädchen und Frauen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Mit freundlichen Grüßen

Ali Mahdjoubi
Wissenschaftlicher Mitarbeiter

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