Frage an Claudia Roth von Bernd K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau MdB Roth
Sind Sie der Meinung, dass das Veröffentlichen im und außerhalb des Internets unter einem Pseudonym - gerade oder insbesondere hinsichtlich politischer Themen - eine "Demokratie für Feiglinge" repräsentiert?
Was sagen Sie dazu, dass die niedersächsische stellv. Landesvorsitzende der Grünen Birgit Kemmer dies für die politische Diskussion im Internet wortwörtlich so beschreibt?
So geschehen am 05. September 2011 in einer Diskussionrunde zur niedersächsischen Kommunalwahl 2011 in der HalleIV in Lingen (Ems).
Quelle: http://www.emsvechtewelle.de/podcast/standpunkte-zur-lingener-stadtratswahl.html (bei 1:48 Minuten)
Schöne Grüße aus dem Emsland
Sehr geehrter Herr Koop,
die Diskussion um die Anonymität im Netz ist ja vor allem erneut nach der schrecklichen Tat in Norwegen entbrannt. In der politischen Diskussion ist sie keinesfalls neu. Selbstverständlich sollte eine derartige Tat wie die in Norwegen, die einen persönlich tief bewegt, auch immer Anlass geben, innezuhalten und nachzudenken, wie möglicherweise solche Taten in Zukunft verhindert werden können. Eine solche Tat für die eigene politische Agenda zu nutzen, wie es Innenminister Friedrich getan hat, finden wir dagegen unredlich. So haben wir mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, dass Herr Friedrich, der offenbar dem britischen Premier nacheifern wollte, bereits einen Tag nach den besagten Äußerungen im Spiegel seinen Sprecher hat klarstellen lassen, dass der Innenminister keineswegs plane, die Anonymität im Netz in Frage zu stellen. Dies tat er offensichtlich, nachdem er von seinen Mitarbeitern über die derzeit geltende Rechtslage informiert wurde.
Nach den neuesten Zahlen sind 3/4 aller Bundesbürger täglich im Internet unterwegs. Das Internet ist bereits heute die zentrale Informations- und Kommunikationsinfrastruktur der BundesbürgerInnen. Sowohl Informationsteilhabe als auch die freie Kommunikation sind schützenswerte Grundlagen aller freiheitlichen Demokratien dieser Welt. Welchen Wert sie haben, konnte man in jüngster Zeit immer wieder dort beobachten, wo Menschen sich von Despoten los sagten und für demokratische Reformen auf die Straßen gingen. Nicht ohne Grund wurde von vielen autoritären Regimen dieser Welt als Antwort darauf wiederholt versucht, Kommunikationsstrukturen nachhaltig zu stören oder gar gleich ganz abzuschalten.
Wir nehmen z.B. unser Recht auf freie Meinungsäußerung im Alltag in den unterschiedlichsten Situationen - oft ganz selbstverständlich auch anonym oder auch nur pseudonym - in der Annahme wahr, selbst zu bestimmen, wer was von uns mithört, aufzeichnet, auswertet etc. Leider ist das im Internet zunehmend nicht mehr der Fall. Technisch ist es ohnehin so, dass eine Vielzahl unserer Klicks registriert und bei den unterschiedlichsten Stellen gespeichert wird. Gerade im Verhältnis und im Kontakt mit Unternehmen im Internet gilt schon jetzt leider oftmals das Gegenteil von Anonymität, ganz anders als im Alltagsleben etwa beim Einkaufen.
Um detaillierte Profile von Kunden zu erlangen, die es wiederum erlauben, Produkte so zielgenau als möglich entsprechend der Vorlieben und Neigungen von Personen anzubieten, wird die Anonymität oftmals gezielt aufgehoben. Die so erlangten Daten bieten zudem vielfältige Missbrauchsmöglichkeiten, wie zuletzt die Sicherheitslücken z.B. bei Sony gezeigt haben.
Gerade weil die Bedeutung einer freien Kommunikation so hoch und das Missbrauchspotential so massiv ist, hat sich der Gesetzgeber bereits vor Jahren ganz bewusst dazu entschieden, eine Pflicht für die anonyme oder zumindest pseudonyme Nutzung von Telemedienangeboten im Telemediengesetz (dem so genannten TMG) einzuführen. Das aus gutem Grund: So wird hierdurch nicht nur die Gefahr von Missbrauchsskandalen gesenkt, zudem ist es für bestimmte Personen und Gruppen wie z.B. Selbsthilfevereine, Opferverbände, Rechtsanwälte, Journalisten, aber auch PolitikerInnen von elementarer Bedeutung, Informationen auch pseudonymisiert oder anonym austauschen zu können.
Insgesamt können wir uns bei dieser Debatte des Eindrucks nicht erwehren, dass das Internet einmal mehr für Dinge verantwortlich gemacht wird, die weitaus komplizierter sind und eine Vielzahl von Ursachen haben. Der schlichte Ruf nach einem "Vermummungsverbot im Internet" ist aus unserer Sicht nur ein Beleg dafür, dass es so mancher immer noch vorzieht, populistische Stammtischparolen hinauszuposaunen statt sich endlich fundiert mit dem Internet und seiner elementaren Bedeutung für unsere moderne Wissens- und Informationsgesellschaft zu beschäftigen.
Wir streiten für eine vernünftige Sicherheitspolitik, die versucht, die Herausforderungen, die das Netz zweifellos für uns bereithält, adäquat zu beantworten, dabei jedoch immer darauf bedacht ist, keinesfalls grundlegende Werte unserer Demokratie und unsere Verfassung in Frage zu stellen.
Wir sind also keineswegs der Meinung, dass das Veröffentlichen im und außerhalb des Internets unter einem Pseudonym - gerade oder insbesondere hinsichtlich politischer Themen - eine "Demokratie für Feiglinge" repräsentiert. Maßgebend für unsere Politik sind unsere Beschlüsse und Programmatik. Positionen von einzelnen Parteimitgliedern und Funktionären können daran nichts ändern.
Mit freundlichen Grüßen
Das Mitarbeiter-Team im Bundestagsbüro