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Claudia Roth
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Frage von Mirjam V. •

Frage an Claudia Roth von Mirjam V. bezüglich Arbeit und Beschäftigung

kurze frage: was denken sie, gegen die ausbeutung junger assistenzärzte ohne finanziellen ausgleich, überstundenbezahlung geschweige denn -abbau und ohne langfristige arbeitsverträge zu tun?

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Sehr geehrte Frau Vles,

vielen Dank für Ihre Email vom 14.09.2005 zu der Arbeitssituation von jungen Assistenzärztinnen und Assistenzärzten. Hier haben wir das Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) neu geregelt, dass sich auch auf die Arbeitssituation in den Krankenhäusern auswirkt.

Im Rahmen des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt hat der Deutsche Bundestag am 26. September 2003 auch Änderungen des ArbZG beschlossen, durch die das „Arbeitszeiturteil“ des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 9. September 2003 in deutsches Recht umgesetzt wird. Der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat hat diese Regelungen ergänzt und im Dezember 2003 endgültig beschlossen. Das geänderte Arbeitszeitgesetz konnte somit zum 1. Januar 2004 in Kraft treten.

Die beschlossenen Änderungen geben vor, welchen Anforderungen Arbeitszeiten generell zu genügen haben. Die Tarifvertragsparteien haben jedoch die Möglichkeit, in bestimmten Grenzen flexiblere Regelungen als vom Gesetz vorgeschrieben zu vereinbaren.

Das Gesetz schreibt vor, dass die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer acht Stunden nicht überschreiten darf. Sie kann auf bis zu zehn Stunden verlängert werden. Jedoch muss dann innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen ein Stundenausgleich gewährleistet sein, so dass im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Für Nachtarbeitnehmer gilt ein kürzerer Ausgleichszeitraum.

Von dieser grundsätzlichen Regelung können die Tarifpartner abweichen. Voraussetzung für eine solche Abweichung ist immer, dass in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst fällt. Dann besteht die Möglichkeit, die Arbeitszeit über zehn Stunden hinaus werktäglich zu verlängern. Der Zeitraum, innerhalb dessen die Arbeitszeitverlängerung auf durchschnittlich acht Stunden werktäglich ausgeglichen werden muss, kann von den Tarifvertragsparteien auf bis zu zwölf Monate ausgedehnt werden.

Lassen besondere Erfordernisse und Ausgangsbedingungen keine praxisgerechte Lösung nach den eben genannten Möglichkeiten zu, können die Tarifpartner darüber hinaus reichende längere Arbeitszeiten vereinbaren. Dann kann die werktägliche Arbeitszeit auch ohne Ausgleich auf über acht Stunden verlängert werden. Dabei ist sicherzustellen, dass die Gesundheit der ArbeitnehmerInnen nicht gefährdet wird. Außerdem müssen die ArbeitnehmerInnen bei dieser so genannten eingeschränkten Opt-out-Regelung schriftlich einwilligen. Im Vermittlungsausschuss wurde beschlossen, dass die Widerrufsfrist der ArbeitnehmerInnen für schriftliche Einwilligungen sechs statt wie ursprünglich vorgesehen einen Monat beträgt. Grundsätzlich darf bei einer solchen Arbeitszeitgestaltung die Arbeitszeit 48 Stunden wöchentlich im Durchschnitt von zwölf Kalendermonaten nicht überschreiten.

Die Gestaltungsspielräume, die der Bundestag den Tarifpartnern einräumen will, greifen auch für bestehende Tarifverträge. Bereits vereinbarte innovative Arbeitszeitmodelle gelten damit weiter, wenn sie dem geänderten Recht entsprechen. Folglich sind neue Tarifabschlüsse nicht zwangsläufig notwendig.

Nach Einschätzung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit trifft darüber hinaus die Behauptung, dass die neuen Regelungen künftig nur noch Drei-Schicht-Modelle zuließen, nicht zu. Trotzdem werden nicht alle Häuser innovative Arbeitszeitmodelle kostenneutral einführen können. Vor diesem Hintergrund werden Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern unterstützt. Das mit dem Fallpauschalengesetz für 2003 und 2004 vorgesehene Fördervolumen zur Verbesserung der Arbeitszeitbedingungen wurde durch die Gesundheitsreform um jährlich weitere 100 Millionen Euro aufgestockt. Bis zum Jahr 2009 erhöhen sich die den Krankenhäusern zusätzlich für die Verbesserung der Arbeitszeitbedingungen verfügbaren Mittel auf 700 Millionen Euro. Zahlreiche Krankenhäuser nutzen die zusätzlichen Gelder bereits zielgerichtet für eine Anpassung der Arbeitszeitorganisation.

Uns ist bekannt, dass insbesondere von Seiten der Krankenhäuser trotz dieser Regelungen Befürchtungen hinsichtlich der Umsetzbarkeit des neuen ArbZG geäußert werden. Im Vermittlungsausschuss wurden übereinstimmend Änderungen zum Regierungsentwurf verabschiedet, die den Tarifpartnern ausreichend Zeit lassen, tarifvertragliche Lösungen zu finden.

Wesentliche Ergänzung zum ursprünglichen Gesetzentwurf ist eine Übergangszeit bis zum 31.12.2005. Bis dahin gelten jetzt geltende Tarifverträge weiter bzw. nach. Die Tarifparteien können diese Zeit nutzen, um abweichende Regelungen im Rahmen der gesetzlichen Öffnung für ihre Branchen zu finden. Erfolgt dies nicht, gelten die gesetzlichen Bestimmungen nach Ablauf der Übergangsfrist.

Hinsichtlich seines Handlungsspielraums ist der Bundesgesetzgeber durch die Vorgaben der europäischen Ebene gebunden. Seit einigen Monaten gibt es allerdings auf EU-Ebene eine neue Debatte um die EU-Richtlinie. Die EU-Sozialkommissarin Anna Diamantopoulou bzw. ihr Nachfolger Stavros Dimas hatten ein Verfahren zur Neubewertung („Konsultation“) der Richtlinie angestoßen, deren Ergebnisse am 22. September 2004 bekannt gegeben wurden. Eine wesentliche Neuerung besteht darin, dass man den Mitgliedsstaaten freistellen möchte, ob sie Ruhezeiten von Ärzten, Feuerwehrleuten und anderen Berufsgruppen als vollwertige Arbeitszeit behandeln oder nicht. Dabei wird zwischen „aktiver“ und „inaktiver“ Bereitschaftsdienstzeit unterschieden und damit eine neue Kategorie der Bewertung von Arbeitszeit eingeführt. Unter inaktiver Arbeitszeit wird danach die Zeit verstanden, die der Arbeitnehmer zwar am Arbeitsplatz verbringt, in der er jedoch keine Arbeitsverrichtungen ausführt. Eine zweite wichtige Neuregelung bezieht sich auf die oben geschilderte eingeschränkte Opt-out-Regelung, mit der die wöchentliche Höchstarbeitszeit einzelvertraglich überschritten werden darf. Um Missbräuche auszuschließen, sieht der Kommissionsvorschlag hier strengere Regeln vor. So darf die Zustimmung des Arbeitnehmers nicht innerhalb der Probezeit eingeholt werden und die Laufzeit des Opt-out muss begrenzt sein. Darüber hinaus soll eine absolute Obergrenze von 65 Arbeitsstunden gelten, es sei denn, man hatte sich in einer tariflichen Sozialpartnervereinbarung auf etwas anderes geeinigt.

Der Kommissionsentwurf ist vom Europäischen Parlament in 1. Lesung abgelehnt worden, insbesondere wegen der Unterscheidung von „aktivem“ und „inaktivem“ Bereitschaftsdienst. Auch in der Öffentlichkeit ist dieser Vorschlag auf ein sehr gespaltenes Echo gestoßen. Viele Akteure begrüßen den Vorschlag, da er die tatsächliche Arbeitsleistung auch ökonomisch realistischer abbilde, andere sehen darin eine unzulässige Aufweichung der bisherigen Regelung. Auch wir Grüne stehen dieser Unterscheidung eher ablehnend gegenüber, zumal sie eine drastische Neudefinition des EuGH-Urteils bedeuten würde.

Wir werden die weitere Entwicklung der EU-Arbeitszeitrichtlinie genau verfolgen. Dabei wird darauf zu achten sein, dass in der Praxis die nötige Rechts- und Planungssicherheit für Arbeitnehmer und –geber gewährleistet bleibt. Dies bedeutet einerseits, die eingeschränkte Opt-out-Regelung auf europäischer Ebene möglichst zu erhalten, was die Ergebnisse der EU-Kommission auf nationaler Ebene ausdrücklich auch vorsehen. Andererseits müssen die Rechte der Arbeitnehmer gesichert werden. Wir sind überzeugt, dass wir hier eine gute Lösung finden werden.

Mit freundlichen Grüßen

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