Frage an Claudia Roth von Boris S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrte Frau Roth,
Sie und Ihre Partei haben im Jahr 2001 den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr als Reaktion auf den 11. September befürwortet, obwohl keiner der mutmaßlichen Attentäter Afghane war und die Urherberschaft des Anschlags bis heute nicht geklärt ist.
http://www.reuters.com/article/marketsNews/idUSN2938409320090629
http://www.guardian.co.uk/politics/2003/sep/06/september11.iraq
Derzeit sichert sich der afghanische Präsident Karzai mittels Wahlbetrug, sowie machtpolitischer Bündnisse mit Kriegsverbrechern und Drogenhändlern seine nächste Amtszeit. Die afghanische Parlamentarierin Malalai Joya beschreibt diese Wahl als Betrug am afghanischen Volk und an den afghanischen Frauen. Ein Gesetz, dass unter anderem die Vergewaltigung in der Ehe billigt, wurde erlassen, um die Stimmen der Fundamentalisten zu gewinnen.
http://www.independent.co.uk/opinion/commentators/malalai-joya-dont-be-fooled-by-this-democratic-faccedilade-ndash-the-people-are-betrayed-1774574.html
Denken Sie der Krieg bzw. die Stabilisierung dieser afghanischen Regierung verbessert die Situation afghanischer Frauen?
Die Grenzen zwischen den Aufgaben der NATO-geführten Isaf und der US-geführten Enduring-Freedom-Mission in Afghanistan verwischen merkbar.
http://www.tagesschau.de/ausland/meldung29042.html
Auch Ihre Partei kritisierte 2007 zurecht, dass es sechs Jahre nach Beginn der OEF-Mission als Reaktion auf die Anschläge in den USA noch kein UN-Mandat dafür und keine Überprüfung des ausgerufenen Nato-Bündnisfalls gab.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,517547,00.html
Aktuell beschreibt eine Studie wie die NATO-Truppen in zunehmendem Maße illegale Milizen (Warlords, die für Menschrechtsverletzungen und Drogenhandel verantwortlich sind) und private Sicherheitsfirmen für sogenannte "Black Operations" nutzen.
http://www.guardian.co.uk/world/2009/sep/16/nato-forces-afghan-militias
Können Sie, vor diesem Hintergrund, eine deutsche Beteiligung an diesem Krieg verantworten?
Sehr geehrter Herr Schlensker,
einige Punkte und Zusammenhänge in Ihrer Frage sehen wir anders: Der 11. September war nur einer der Anlässe, über ein völkerrechtlich konformes Vorgehen in Afghanistan zu entscheiden. Das Land war in den Fängen eines Bürgerkriegs und befand sich in einem Zerfallprozess, der zur Gründung zahlreicher Terrorcamps geführt hatte. Hinzu kamen massive Menschenrechtsverletzungen von Taliban und Warlords. Die OEF-Mission war nie UN-mandatiert gewesen. Wir haben uns für ein UN-mandatiertes Vorgehen in Afghanistan ausgesprochen, das die Bezeichnung ISAF erhalten hat.
Erst vor zehn Tagen haben wir auf unserem Parteitag in Rostock intensiv über die grüne Afghanistan-Politik diskutiert und mit großer Mehrheit einen Beschluss zu Afghanistan gefasst.
Darin bekennen wir uns zu dem Ziel, dass im Jahr 2010 ein verbindlicher und gemeinsamer internationaler Plan zur Übergabe der vollständigen Verantwortung an die afghanischen Partner mit konkreten Zwischenzielen entwickelt wird.
Uns ist klar: Ein „weiter so“ führt zum Desaster. Die internationale und die deutsche Afghanistanpolitik bedürfen eines beherzten Kurswechsels, wie ihn wir GRÜNE seit langem fordern. Die Gewalteskalation auch im Einsatzbereich der Bundeswehr, die massiven Wahlfälschungen bei den Präsidentschaftswahlen oder die grassierende Korruption sind nicht weiter mit einer Politik des Durchwurstelns zu bewältigen. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, schnellstmöglich eine unabhängige Experten-Kommission einzuberufen, die zügig das deutsche Engagement in Afghanistan analysiert, Misserfolge und Erfolge klar benennt und ihrerseits Konsequenzen für den zivilen Aufbauplan und die Abzugsperspektive der Bundeswehr vorschlägt.
Einen Sofortabzug halten wir für falsch. Ein verantwortlicher Abzug braucht Zeit und eine gründliche Vorbereitung. Das geht nicht in wenigen Monaten. Ein Sofortabzug würde die noch schwache afghanische Zivilgesellschaft einem Bürgerkrieg zwischen Taliban und Warlords überlassen. Er hätte eine Eskalation von Gewalt und Krieg zur Folge und würde viele Früchte des jahrelangen Aufbaus zunichte machen. Wie zu Zeiten des afghanischen Bürgerkrieges müsste die Masse der Helfer abziehen und Hunderttausende von Rückkehrern nach Afghanistan würden wieder ins Exil in die Nachbarstaaten getrieben. Er wäre ein Brandbeschleuniger sondergleichen - und zudem ein Destabilisierungsprogramm für die instabile Atommacht Pakistan.
Statt kontraproduktiver Militäraktionen fordern wir „Zivil vor Militär“ mit einer massiven Unterstützung beim zivilen und entwicklungspolitisch orientierten Aufbau, insbesondere in den Bereichen Justiz, Bildung, Infrastruktur und Landwirtschaft. Zusätzlich brauchen wir eine massive Verstärkung der Ausbildung von Polizei und Armee, damit die afghanische Polizei und die afghanische Armee mittelfristig in der Lage sind, die Sicherheit der afghanischen Bevölkerung zu garantieren.
Den Beschluss finden Sie unter folgendem Link: http://www.gruene-partei.de/cms/default/dokbin/310/310749.fuer_eine_verantwortliche_afghanistanpol.pdf
Mit freundlichen Grüßen
Das Büro-Team von Claudia Roth