Frage an Christel Happach-Kasan von Lorenz D. bezüglich Jugend
Sehr geehrte Frau Dr. Happach-Kasan
was in fast allen Ländern dieser Welt legal und möglich ist, in Dänemark bereits seit mehr als 150 Jahren, wird in Deutschland als Ordnungswidrigkeit gesehen und mit Bußgeldern und Sorgerechtsentzug bestraft. Die Rede ist vom sogenannten "Homeschooling" oder Hausunterricht, zu welchem sich auch in diesem Lande über 1000 Familien entschieden haben, Tendenz steigend.
Interessanterweise stammt diese Art der Anwesenheitspflicht noch aus der Zeit des Dritten Reiches und wurde 1938 mit dem Reichsschulpflichtgesetz eingeführt. Sicherlich möchte sich auch die FDP von den Lastern dieser Zeit befreien.
Empirisch betrachtet lässt sich zeigen, dass der angewandte Hausunterricht eine mindestens gleichwertige Alternative zum Schulunterricht darstellt und sich in deutlichen Erfolgen messen lässt.
Meine Frage lautet daher, inwiefern Sie sich einsetzen, um dieses im Grundgesetz verbriefte Recht auch in Deutschland durchzusetzen?
Mit freundlichen Grüßen
Lorenz Dietrich
Sehr geehrter Herr Dietrich,
die Schulpflicht in Deutschland hat eine lange Tradition. Schon Martin Luther hat sie in seiner Schrift: „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ bereits 1524 gefordert. Sie wurde in den verschiedensten Kleinstaaten zu unterschiedlichen Zeiten eingeführt, blieb aber zunächst nur eine Absichtserklärung, denn es gab weder die dafür erforderlichen Lehrer noch die Schulgebäude.
Die Schulpflicht ist nicht, wie sie schreiben, ein Kind des Nationalsozialismus. Die Weimarer Verfassung führte 1919 die Schulpflicht ein. Im 19. Jahrhundert gab es Proteste gegen die Schulpflicht, weil die Eltern die Arbeitskraft ihrer Kinder brauchten. Das war auch später noch so und so wurden die Herbstferien so gelegt, damit die Kinder zur Mithilfe in der Landwirtschaft Zeit hatten, ohne die Schule zu versäumen. Nicht selten wurde Kindern Bildung vorenthalten, weil man ihre Arbeitskraft benötigte. Das galt insbesondere in der Landwirtschaft. Auch damals sprachen Kritiker viel vom „Erziehungsrecht“, wenn sie Erntehelfer meinten. Tatsächlich senkte die Einführung der Schulpflicht damals die Rate an Analphabeten dramatisch. Es ist richtig, dass im Dritten Reich die Schulen missbraucht wurden. Das Unrechtsregime missbrauchte aber praktisch alle staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen für seine Zwecke. Da war die Schule keine Ausnahme. Zur Diskreditierung der Schulpflicht ist der Hinweis allein ungeeignet.
In der Sache haben sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Bundesgerichtshof das Bestehen der Schulpflicht in Deutschland bestätigt und dafür auch gute Gründe genannt. So heißt es in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Mai 2006: „Die allgemeine Schulpflicht dient dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags. Dieser Auftrag richtet sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und die Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit. Er richtet sich auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben. Die Offenheit für ein breites Spektrum von Meinungen und Auffassungen ist konstitutive Voraussetzung einer öffentlichen Schule in einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen.“ Wenn heute die Schulpflicht kritisiert wird, dann in der Regel von Eltern aus religiösen Gründen. Egal ob muslimischen Mädchen von den Eltern der Schwimmunterricht verwehrt wird, oder der Sexualkundeunterricht von konservativen Christen für ihre Kinder für ungeeignet gehalten wird: Es geht im Kern um den Konflikt zwischen der Religionsausübung der Eltern und den Chancen und Rechten der Kinder in einer komplexen globalisierten Welt. Es geht um das Spannungsfeld zwischen Elternrecht und Kindesrecht. Die Schulpflicht dient dem Kindesrecht.
Dass sich „empirisch zeigen lässt“, dass Heimbeschulung gleichwertig sei, bezweifele ich, auch wenn es Einzelbeispiele gibt, in denen Eltern der komplexen Aufgabe gerecht geworden sind. Nach einem aktuellen Bericht im hessischen Rundfunk (1) soll es 500 Eltern in Deutschland geben, die Hausunterricht für ihre Kinder anstreben. Auch wenn in dem dort beschriebenen Fall die Eltern ihrer Aufgabe wohl gerecht geworden sind, glaube ich nicht, dass er sich verallgemeinern lässt. Es erscheint mir nicht schlüssig, wie im Hausunterricht Sprach- und Sozialkompetenz vermittelt werden kann, wie Experimentelle Naturwissenschaften stattfinden oder eine Mannschaftssportart ausgeübt werden könnte. In Schweden, wo Heimbeschulung grundsätzlich möglich ist, haben sich gerade einmal 200 Eltern dazu entschieden.
In einem Land mit Zuwanderern unterschiedlichster kultureller Hintergründe, mit Kindern die die verschiedensten Muttersprachen haben, ist die Schule ein Ort der Integration, der ein Auseinanderfallen in Parallelgesellschaften verhindert. Die Heimbeschulung ist auch ein Relikt aus feudalen Zeiten, in der eine gut situierte Oberschicht sich mit dem Volk nicht gemein machen wollte. Sie passt nicht mehr in unsere Zeit, sie stärkt weder die Rechte, noch die Chancen unserer Kinder.
Die gesellschaftliche Realität des Jahres 2013 verlangt nach Antworten, wie wir Beruf und Familie vereinbar machen. Ich wage mich wohl nicht weit vor, wenn ich die Vermutung äußere, dass das „Recht auf Heimbeschulung“ sehr schnell einher gehen würde mit der Pflicht von Frauen, dieses Recht auszuüben und auf einen eigenen Beruf zu verzichten.
Ich werde mich auch weiterhin für eine optimale Lebensvorbereitung unserer Kinder durch gute Schulen mit guter Ausstattung und motivierte Lehrerinnen und Lehrer, für Integration und für eine faire Aufgabenverteilung in unseren Familien einsetze. Dazu leisten unsere Schulen einen wichtigen Beitrag.
Mit freundlichen Grüßen
Christel Happach-Kasan