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Christel Happach-Kasan
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Frage von Naomi O. •

Frage an Christel Happach-Kasan von Naomi O. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrte Frau Dr. Happach-Kasan.
Im Zuge einer Projektarbeit beschäftigen wir uns mit dem Menschenbild im Allgemeinem und den verschiedenen Menschenbildern verschiedener Parteien.
Wie sieht das Menschenbild der FDP aus?
Von was für einem Menschenbild gehen Sie aus, wenn Sie Politik machen?

Danke im voraus!

Mit besten Grüßen,

Naomi Oba

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Antwort von
FDP

Sehr geehrte Frau Oba,

ich danke Ihnen für Ihre sehr interessante Frage.

Bei Wikipedia findet man ganz am Anfang des Artikels zum Menschenbild den Satz: "Dem Einzelnen erscheint das eigene Menschenbild häufig als so selbstverständlich, dass er kaum darüber nachdenkt, dass man sich den Menschen auch anders vorstellen kann."

Das gilt zunächst auch für FDP-Mitglieder. Wir definieren uns nicht über ein einheitliches Menschenbild. Aber wir haben gemeinsame Grundüberzeugungen, denen ähnliche Vorstellungen zugrunde liegen.

Der einzelne eigenverantwortlich wie auch sozial verantwortlich handelnde, mündige Bürger mit seinen Fähigkeiten und Wünschen ist Repräsentant des liberalen Menschenbildes. Vor diesem Hintergrund steht der Satz des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuß: "Die Gemeinde ist wichtiger als der Staat und das Wichtigste in der Gemeinde sind die Bürger."

Im Gegensatz zum liberalen Menschenbild stehen die Vorstellungen totalitärer Ideologien. Die Schaffung des "neuen Menschen" war erklärtes Ziel der revolutionären Sowjetpädagogik der 1920iger und 1930iger Jahre. Adolf Hitler hat den Nationalsozialismus als "Willen zur neuen Menschenschöpfung" bezeichnet. Totalitäre Ideologien erheben die Forderung nach dem "neuen Menschen", der den Staatsvorstellungen totalitärer Ideologien gerecht wird. Das ist nicht unsere Vorstellung vom Menschen. Wir nehmen den Menschen, so wie er ist.

"Habe Mut, Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" hat Immanuel Kant 1784 in der Beantwortung der Preisaufgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften "Was ist Aufklärung?" geschrieben.

Vollständig heißt es bei Kant: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". "Unmündigkeit" ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. "Selbstverschuldet" ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."

Der Satz von Kant ist auch heute noch eine wirkliche revolutionäre Herausforderung. Liberale fühlen sich der Aufklärung verpflichtet. Wir sehen den Menschen als handelndes Subjekt und nicht als Opfer - von wem auch immer: der Politik, der Verhältnisse, etc.. Wir sind uns dabei bewusst, dass es Menschen gibt, die nicht eigenverantwortlich ihr Leben gestalten können. Sie brauchen den Schutz der Gesellschaft, aber nur sie.

Der eigenverantwortlich handelnde, mündige Bürger hat Rechte gegenüber dem Staat. Der Erhalt seiner Bürgerrechte ist eines unserer zentralen Anliegen. Diese Rechte sind in den ersten 19 Artikeln unseres Grundgesetzes festgeschrieben. Das Beispiel Google Street View, ein Unternehmen fotografiert Straßenzüge und will diese ins Internet stellen, zeigt, dass inzwischen auch Unternehmen Bürgerrechte, zum Beispiel das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, einschränken können. Zunehmend müssen Bürgerrechte gegenüber Unternehmen verteidigt werden. Dies ist in unseren Augen ein wichtiges Anliegen des Verbraucherschutzes.

Wer den mündigen Bürger im Zentrum seiner Politik sieht, verpflichtet sich selbst, ihn auch wie einen mündigen Bürger anzusprechen. Ich lehne es daher ab, mit Ängsten Politik zu betreiben. Weder die von konservativer Seite geschürte Angst vor Überfremdung noch die von Ökoverbänden thematisierte Angst vor Gentechnik und Kernenergie haben irgendeine Berechtigung. Angst macht die Menschen unfrei und nimmt ihnen dadurch die Freiheit, selbst zu entscheiden. Deswegen widerstrebt es mir, Angst als Mittel politischer Mobilisierung einzusetzen.

Die Emotionalisierung der Politik, die nicht nur von Politikern sondern gerade auch von Nichtregierungsorganisationen vorangetrieben wird, empfinde ich daher als Bedrohung der Freiheit des Einzelnen, seine Entscheidung zu treffen. Ob es das Bild vom Boot ist, das angeblich voll sei, und gegen die Einwanderung mobilisieren oder der Maiskolben mit der Fratze von Greenpeace, die gegen die Gentechnik agitieren soll, solche Bilder vereinfachen komplexe Inhalte, emotionalisieren, sind Elemente von Kampagnen, aber sie tragen nichts zur Lösung von Problemen bei. Menschen werden zu Entscheidungen (auch Wahlentscheidungen) gedrängt, in dem man ihnen Angst macht, statt sie durch Argumente zu einer verantwortlichen, rationalen Entscheidung zu befähigen. Das lässt sich in meinem Politikbereich sogar statistisch belegen: In keinem Land Europas gibt es größere Ängste vor der Gentechnik, als in Deutschland. Zugleich beklagen in keinem Land Europas mehr Menschen, wenig oder nichts über die Gentechnik zu wissen.

Mein Menschenbild vom mündigen Wähler verlangt, für das als richtig erkannte einzutreten und es zu begründen, auch wenn Meinungsumfragen anderes nahelegen. Das haben auch die Verfassungsväter gewusst. Der Auftrag des Grundgesetzes an die Parteien ist es nicht, die Ergebnisse aus Meinungsumfragen in Politik umzusetzen, sondern "an der Willensbildung" mitzuwirken.

Ich will ein Beispiel nennen, das mit dem im Oktober begangenen Tag der Welternährung zu tun hat. Viele Menschen wissen nicht, dass in jedem Jahr nach Angaben der WHO weltweit 500.000 Menschen erblinden, weil sie unter Vitaminmangel leiden. Der von deutschen und schweizer Forschern entwickelte gentechnisch veränderte Goldene Reis ("Golden Rice"), der das Provitamin A enthält, könnte helfen, die Vitamin-A-Versorgung der armen Bevölkerung in Asien und Afrika zu verbessern. Seine Zulassung wird jedoch von Menschen der ersten Welt verhindert, die alle genug zu essen haben. Welche - tatsächlichen oder vermeintlichen - Risiken rechtfertigen es, eine halbe Million Menschen erblinden zu lassen? Auch wenn laut Meinungsumfragen die Mehrheit der Menschen in Deutschland gegen die Gentechnik ist, gebietet es in meinen Augen die Verantwortungsethik für den Anbau des Goldenen Reis in den Entwicklungsländern einzutreten.

Zur Beantwortung der Frage nach dem Weltbild gehört auch, wie wir den Einzelnen in der Gesellschaft wahrnehmen. Es besteht ein Spannungsfeld zwischen der Freiheit des Einzelnen und den Ansprüchen der Gesellschaft. Es ist Aufgabe der Politik, den Ausgleich der verschiedenen Interessen zu organisieren. Bei jedem Infrastrukturprojekt, sehr deutlich bei der aktuellen Kontroverse um das Projekt Stuttgart 21 (der Kopfbahnhof soll zur Verwirklichung einer durchgehenden Eisenbahnverbindung von Paris nach Budapest in einen Durchgangsbahnhof umgebaut und dabei in den Untergrund verlegt werden), geht es um den Anspruch der Gesellschaft gegenüber verschiedenen Interessen, wozu immer auch die Interessen einzelner Menschen gehören.

Das liberale Menschenbild wird nicht geprägt durch das Recht des Stärkeren, sondern durch die Verantwortung des Starken. Erst ein freier und starker Mensch ist auch fähig zur Solidarität. Es ist ein Vorurteil zu glauben, der Liberalismus wolle eine Ellenbogengesellschaft. Schon Abraham Lincoln (16. Präsident der USA 1861-1865) erkannte: "Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, indem ihr die Starken schwächt."

Die Zeit der Aufklärung mit Denkern wie Kant und Voltaire hat neben den Naturwissenschaften auch die Vorstellung vom Individuum hervorgebracht. Der Einzelne Mensch in seiner Freiheit steht im Mittelpunkt dieses Weltbildes. Erst später, mit der Industrialisierung und dem Bedeutungsverlust der Großfamilie wurde die Vorstellung ergänzt durch die soziale Verantwortung des Gesellschaft für den Einzelnen. Erst in den letzten Jahrzehnten entwickelte sich das Bewusstsein für die Verantwortung gegenüber kommenden Generationen. Ich teile diese Vorstellung weitgehend. Die drei Forderungen der französischen Revolution: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" sind nach wie vor eine große Herausforderung für die Politik: Die Freiheit des Einzelnen zu eigenverantwortlichem Handeln, die Gleichheit aller unabhängig von Geschlecht, Religionszugehörigkeit, etc. vor dem Gesetz und das soziale Miteinander.

Mit freundlichen Grüßen
Christel Happach-Kasan