Frage an Charlotte Schneidewind-Hartnagel von Beate B. bezüglich Politisches Leben, Parteien
Sehr geehrte Frau Schneidewind-Hartnagel,
nachdem ich viele Jahre die Grünen gewählt habe, weil ich derem Grundsatzprogramm zustimme, vernehme ich mit Erstaunen, dass der Bundesvorstand der GRÜNEN die Einführung der direkten Demokratie auf Bundesebene nach mehr als 40 Jahren aus dem Grundsatzprogramm streichen will.
Volksabstimmungen sind ein wichtiges Mittel, um uns Bürger:innen echte Mitbestimmung auch zwischen den Wahlen zu ermöglichen.
Wie stehen Sie dazu, dass die Volksabstimmung aus dem Grundsatzprogramm der Partei gestrichen werden soll?
Werden Sie sich, auf dem Parteitag dafür einsetzten, dass die Volksabstimmung nicht aus dem Grundsatzprogramm der Partei gestrichen wird?
Mit freundlichen Grüßen B.Böcker
Sehr geehrte Frau B.,
zunächst vielen Dank für Ihre Mitteilung.
Sie sprechen mit der Bedeutung von Volksabstimmungen etwas sehr Wichtiges an, nämlich die Frage, wie wir gesellschaftliche Diskussionen führen und zu Entscheidungen kommen.
Ich war immer eine Anhängerin direktdemokratischer Elemente. Allerdings war ich auch immer der Ansicht, dass jede Debatte so geführt werden sollte, dass am Ende eine Entscheidung der Vernunft auf der Grundlage von Fakten steht. Leider ist das nicht immer deckungsgleich.
In der Schweiz zum Beispiel, dem europäischen Vorbild für direktdemokratische Instrumente, wurde 2009 per Volksabstimmung ein Bauverbot für Minarette in die Bundesverfassung aufgenommen. Ich schätze dennoch, dass positive Beispiele als Argumente für mehr direkte Demokratie überwiegen. Aber mich macht stutzig, dass zum Beispiel die AfD für Elemente direkter Demokratie eintritt. Was folgt hieraus in Zeiten von wachsendem Populismus und Fake News?
Unbestritten muss unser Ziel lauten, möglichst alle Bürger*innen an Debatten und Entscheidungen zu beteiligen. Dafür muss die Gesellschaft aber auch die Grundlagen schaffen. Dazu gehören Aufklärung, Fakten, wissenschaftliche Erkenntnisse (wohl wissend, dass diese sich ändern können) und ein Rahmen, innerhalb dessen direkte Demokratie sich abspielen muss – etwa das Grundgesetz.
Es muss sichergestellt sein, dass alle Bürger*innen umfassend informiert werden. Wir müssen also den Spagat hinbekommen, dass die relevanten Informationen einerseits in verständlicher Form vorliegen und dass andererseits die Inhalte nicht zu stark vereinfacht werden.
Dieser Spagat ist gar nicht so einfach. Es ist nicht einfach, ein komplexes Thema auf eine Frage zu reduzieren, die die Bürger*innen dann in einem Referendum mit Ja oder Nein beantworten können. In der Auseinandersetzung führt das zwangsläufig zu Zuspitzungen, die zu emotionalen – vielleicht sogar zu der Vernunft widersprechenden – Entscheidungen führen können. Wir alle, die wir für mehr direkte Demokratie sind, müssen uns fragen, ob wir mit der Reduktion einer komplexen Angelegenheit auf eine Frage und einer Zuspitzung wichtiger Argumente wirklich das erreichen, was uns als direkte Demokratie vorschwebt.
Direktdemokratische Instrumente habe ich auch immer als Elemente verstanden, die Gesellschaft durch gemeinsames Debattieren zu stärken und zu einen. Doch die Reduktion auf eine möglichst kurze, einfache Frage und eine zugespitzte Auseinandersetzung bergen die Gefahr zu polarisieren und zu spalten. Das ist aber nicht das, was ich mir unter direkter Demokratie vorstelle.
Auch Ihre Fragen sind für mich nicht mit einem eindeutigen Ja oder Nein zu beantworten, weil ich mit einer solchen Antwort der Komplexität des Themas nicht ansatzweise gerecht würde.
Unser Ziel muss bleiben, möglichst alle Bürger*innen an Debatten und Entscheidungen teilhaben zu lassen. Wir müssen mehr anstreben als die repräsentativen Instrumente unserer Demokratie. Am Ende geht es darum, unsere Demokratie auszubauen, und nicht aus gutem, direktdemokratischem Willen antidemokratische Kräfte zu stärken.
Für mehr Demokratie und mehr Beteiligung und Mitbestimmung der Bürger*innen setze ich mich immer ein – das werde ich auch auf dem Parteitag tun. Das gehört aber ohnehin zur grünen DNA, weswegen ich hoffe, dass sie auch in Zukunft Ihr Kreuz bei Bündnis 90/Die Grünen machen werden.
Mit freundlichen Grüßen
Charlotte Schneidwind-Hartnagel