Frage an Cem Özdemir von Thomas R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Özdemir,
ich habe soeben in der Welt am Sonntag vom 17.01.2016, auf Seite 36 den Artikel "Operation Wahrheit" gelesen.
Hierbei hat mich sehr verwundert, dass Sie als Vertreter einer rechtsstaatlichen Ordnung sich nicht das Anliegen der Rodriks zu eigen gemacht haben und Ihren prominenten Status genutzt haben, der Affäre ein öffentliches Podium zu verschaffen.
Auch verwundert mich, dass Sie die Anfrage der Welt nach einer Stellungnahme zu dem Sachverhalt unbeantwortet lassen.
Ist aussitzen eines unangenehmen Sachverhaltes nun auch Ihre politische Strategie?
Wie bewerten Sie die Affäre "Operation Vorschlaghammer" aus heutiger Sicht?
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus für Ihr eigenes Handeln und die Türkei-Politik der Grünen im Allgemeinen?
Für Ihre Bemühungen um eine kurze Stellungnahme bereits im Voraus besten Dank.
Mit freundlichem Gruß
Thomas Ritter
Sehr geehrter Herr Ritter,
es war keine Absicht, sondern ein Versäumnis, die Anfrage der Journalistin nicht rechtzeitig beantwortet zu haben. Das ist bedauerlich, kann in der Hektik aber leider passieren. Umso besser, dass ich hier Gelegenheit habe, die Sache gerade zu rücken.
Zum Sachverhalt:
Für ein angemessenes Urteil ist es wichtig, die türkische Geschichte zu kennen. In der Türkei hat, wer immer gerade an der Macht war, die Justiz oftmals dafür missbraucht, um gegen politische Gegner vorzugehen. Viermal wurden seit 1960 vom Volk gewählte Regierungen durch das Militär mehr oder weniger beliebig abgesetzt. Es fand ein Krieg gegen Teile der eigenen Bevölkerung statt. Menschen sind verschwunden, Mütter haben ihre Kinder verloren, Frauen ihre Männer. Die Wunden sind längst noch nicht verheilt. Bis heute fand keine angemessene Aufarbeitung dieser Ereignisse statt. Es braucht aber aus meiner Sicht eine Aufarbeitung dieser Verbrechen. Es geht um Wahrheitsfindung, die der Versöhnung, Erinnerung und Demokratie dient, nicht der Befriedigung von Rachegelüsten. Hier ein Beitrag von mir aus dem Jahr 2006 über das Verhältnis von Militär und Politik in der Türkei:
Ein Rechtstaat, dessen Justiz nicht unabhängig ist, sondern ein Werkzeug der Machthaber, ist kein Rechtsstaat. Für mich gilt, ungeachtet vermeintlicher Taten und vermeintlicher Täter, in jedem einzelnen Fall: Ein Verfahren muss rechtsstaatlich sein, die Justiz darf nicht das Werkzeug der Regierung sein, jeder Angeklagte hat Anspruch auf einen Rechtsbeistand. Das gilt für mich selbstverständlich auch im Fall von Cetin Dogan. Auch die AKP-Regierung unter Präsident Erdogan ist ein Beispiel für ein zutiefst instrumentelles Verhältnis zum Rechtsstaat. Recht soll nur für die eigenen Anhänger gelten, während Andersdenkende und Oppositionelle mit Hilfe des „Rechtsstaates“ mundtot gemacht werden sollen. Wer gestern noch als Gegner galt (Militärs im so genannten Ergenekon-Prozess) ist schon heute wieder ein taktischer Verbündeter gegen den noch größeren gemeinsamen Feind, in diesem Fall die Kurden. Hier hilft nur eine von Prinzipien geleitete Politik mit gleicher, kritischer Distanz zu allen, die ein Problem mit einem echten Rechtsstaat und Menschenrechten haben.
Ich hatte mit Dani Rodrik in den USA gesprochen. Er hat mir den Fall seines Schwiegervaters geschildert. Meine Erinnerung an das Gespräch unterscheidet sich von seiner. Ich habe dort nicht pauschal erklärt, dass das Militär „Dreck am Stecken habe und bestraft gehöre.“ Das ist nicht meine Sprache. Ich war auch nicht wie „eine Mauer“. Wenn ich mit dieser Haltung ins Gespräch gegangen wäre, hätte ich es mir auch leicht machen können und es mir ersparen, schließlich wusste ich vorab, was Dani Rodriks Anliegen war. Ich habe in diesem Gespräch, unabhängig vom Fall seines Schwiegervaters, vielmehr meine Position erklärt, dass die Türkei beginnen müsse, ihre Vergangenheit und die Verbrechen aufzuarbeiten, für die die Sicherheitskräfte nach allem, was heute bekannt ist, eine große Verantwortung trage – mir ging es aber nicht um Rache und Bestrafung, sondern, wie ich oben ausführe, um Aufarbeitung. Es gibt dafür Vorbilder, die man zwar nicht immer direkt übertragen kann, die aber anleitend sein können. Ich denke dabei beispielsweise an die Wahrheitskommission unter Bischof Tutu in Südafrika nach dem Ende der Apartheid.
Den Fall seines Schwiegervaters konnte ich gar nicht beurteilen. Von Dani Rodrik gab es offenbar die Erwartung, dass ich mich für die Freilassung seines Schwiegervaters einsetze. Das konnte und kann ich aus seiner Sicht nachvollziehen, aber dazu war ich nicht bereit. Es ist für mich selbstverständlich, dass jeder ein faires, rechtsstaatliches Verfahren verdient. Aber ob Cetin Dogan eines Verbrechens schuldig war oder nicht, konnte und wollte ich nicht beurteilen. Selbstverständlich war für mich dabei auch die problematische und undurchsichtige Rolle des Militärs, an dessen Spitze Cetin Dogan stand, in der türkischen Geschichte relevant. Wie hätte ich das ignorieren können? Nehmen Sie diesen Artikel zur Kenntnis:
http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-02/tuerkei-emasya-erdogan
Dort können Sie nachlesen, dass Cetin Dogan einen Erlass unterzeichnet hatte. „Emasya“ stand für ‚Zusammenarbeit zum Zweck der Öffentlichen Ordnung‘ und war ein Protokoll, dass es der Armee erlaubte, auch ohne Aufforderung der Regierungsbehörden bei Krisen im Innern einzugreifen. Die Folge dieser unkontrollierten Machtfülle waren schwarze Listen, auf denen nach Schätzungen rund sechs Millionen Bürgerinnen und Bürger als angebliche "Vaterlandsverräter", "Separatisten", "religiöse Radikale" und "vom Ausland eingekaufte Personen" landeten. Ich habe persönlich Freunde und Bekannte, die in ihrem Leben sehr unter der Rolle des Militärs in der Türkei gelitten haben. Manche sind für den Rest ihres Lebens durch Folter und brutale Menschenrechtsverletzungen gezeichnet. Auch vor diesem Hintergrund liegt es für mich nicht gerade nahe, dass ich mich (weitergehender, als ein rechtsstaatliches Verfahren für jeden zu verlangen) für die Freilassung eines türkischen Generals der damaligen Zeit einsetze. Dazu war ich schlichtweg nicht bereit.
Mit freundlichen Grüßen
Cem Özdemir