Frage an Carsten Sieling von Markus B. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Sieling,
Sie (und Ihre Partei) fordern einen Mindestlohn, und zwar in einer Höhe von 8,50 €. Dazu habe ich Fragen:
1. Woher wissen Sie, dass j e d e verfügbare, vergoltene Tätigkeit einen Mehrwert von 8,50€ erwirtschaften kann? Das wäre doch Voraussetzung dafür, dass der Mindestlohn keine Arbeit vernichtet.
2. Es gibt nachgewiesenermaßen zahlreiche Berufstätigkeiten, die keinen Gewinn erwirtschaften, der einen Stundenlohn von 8,50 refinanziert. Warum wollen Sie diesen Menschen - und die gibt es nun mal, so wie sie es immer gab - die weder die nötige Intelligenz noch Befähigung haben, hochwertige Berufstätigkeiten auszuüben, die Möglichkeit verbauen, arbeiten zu gehen? Sollen die alle wieder als Almosenempfänger ihre Zeit absitzen?
Als ich jung war, gab es zahlreiche dieser Tätigkeiten. Korbwagenzusammenschieber im Supermarkt, Tankwarte, Schuhputzer usw. Heute müssen alle Menschen diese Sache für lau selbst machen und mehren so den Gewinn der Aktionäre. Nicht jeder kann ein Facharbeiter oder Akademiker sein, aber seine Tätigkeit darf dann nicht als "unwert" oder entwürdigend angesehen werden noch darf man sie ihm wegschlagen, indem man sie künstlich überteuert! Arbeiten gehen bedeuet doch nicht nur Geld verdienen und nicht jeder, der arbeitet, kann daraus automatisch das Grundrecht ableiten, daraus einen Mallorca-Urlaub bezahlen können zu müssen.
Freundliche Grüßen
M. Breinig
Sehr geehrter Herr Breinig,
vielen Dank für Ihre Fragen, die ich gern beantworte.
Die SPD kämpft seit Jahren für einen gesetzlichen Mindestlohn. Das hat seine Gründe:
Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich gewachsen. Mittlerweile gibt es zwischen acht und neun Millionen Niedriglohnempfänger, davon ist die Hälfte vollzeitbeschäftigt. In zahlreichen Branchen werden Stundenlöhne von fünf, vier oder sogar nur drei Euro gezahlt! Niedriglöhne sind übrigens mitnichten nur ein Problem von Geringqualifizierten. Denn unter allen Niedriglohnbeschäftigten ist nur etwa jeder Fünfte gering qualifiziert. Die große Mehrheit (fast 80 Prozent) hat eine abgeschlossene Berufsausbildung oder sogar einen Hochschulabschluss.
Mehr als eine Million Menschen haben dabei so ein geringes Erwerbseinkommen, dass sie - obwohl sie vollzeitbeschäftigt sind - zusätzlich Arbeitslosengeld II erhalten. Deutschland hat damit in absoluten Zahlen den größten Niedriglohnsektor in Europa. Fast 20 Prozent der Beschäftigten müssen sich oftmals mit Hungerlöhnen begnügen. Das hier etwas geändert werden muss, leuchtet ein.
Über die mögliche Höhe eines gesetzlichen Mindestlohnes ist viel gestritten worden. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Orientierungspunkte. Einerseits muss sich ein möglicher Mindestlohn in das allgemeine Sozial- und Lohngefüge des Landes einfügen. Dafür kann zum Beispiel die so genannte Pfändungsfreigrenze dienen. Das ist der Betrag des Lohnes eines Beschäftigten, der nicht gepfändet werden darf, wenn er sich verschuldet hat. Nimmt man diese Zahl, kommt man auf einen möglichen Mindestlohn von 8,10 Euro pro Stunde. Außerdem gilt als allgemeine Orientierungsmarke für sogenannte „Armutslöhne“ die Grenze von 50 Prozent des nationalen Durchschnittslohns. Setzt man diese Zahl an, käme man ebenfalls auf einen Mindestlohn von über acht Euro.
Als zweite Orientierungsmarke könnten die gesetzlichen Mindestlöhne in den mit Deutschland vergleichbaren westeuropäischen Nachbarstaaten wie Frankreich, Großbritannien, Irland oder den Benelux-Staaten dienen. Sie liegen derzeit zwischen knapp acht und gut neun Euro. In 20 von 27 EU-Mitgliedsstaaten existiert ein gesetzlicher Mindestlohn. Warum nicht in Deutschland? Dabei halten wir an dem Grundsatz fest, dass zunächst alle tariflichen Möglichkeiten genutzt werden müssen, um Mindeststandards zu sichern. Das entspricht dem Wesen der durch die Verfassung geschützten Tarifautonomie. Dort jedoch, wo es keine Tarifstrukturen gibt, ist der Gesetzgeber gefordert. Wir wollen starke durchsetzungsfähige Gewerkschaften. Jedoch muss der Staat in den Bereichen eingreifen, in denen die Gewerkschaften nicht stark genug sind, um existenzsichernde Löhne durchzusetzen.
Natürlich kann man nicht ausschließen, dass im Falle eines gesetzlichen Mindestlohnes auch Arbeitsplätze abgebaut werden, die die möglichen 8,50 Euro Mindestlohn nicht erwirtschaften. Das sind aber oftmals solche Arbeitsverhältnisse, die nur aufgrund eines extremen Lohndumpings überhaupt geschaffen wurden bzw. existieren! Solche Arbeitsplätze sind für die Menschen nicht nur entwürdigend, sie ziehen auch das Lohngefüge der gesamten Branche nach unten.
Ein Mindestlohn schützt damit nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Lohndumping. Er schützt auch die Unternehmen - und zwar insbesondere kleine und mittlere Betriebe - vor einem Vernichtungswettbewerb durch Konkurrenten, die mit Dumpinglöhnen arbeiten. Mindestlöhne sichern die Konkurrenzfähigkeit und das Überleben heimischer Betriebe. Die positiven Erfahrungen im Baubereich belegen dies. Mindestlöhne sichern also Arbeitsplätze und gefährden sie nicht, wie von Union und FDP immer wieder behauptet.
Unsere Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn begründet sich schließlich nicht allein darin, wie viel Geld eine Tätigkeit pro Stunde einbringt. Es geht uns beim Mindestlohn vor allem um die Wertschätzung von Arbeit. Meiner Partei und mir ist es wichtig, dass jemand der Vollzeit arbeitet auch am Ende des Monats von seinem Geld leben kann und nicht zusätzlich „aufs Amt muss“. Diese Menschen haben dann auch mehr Geld für Dienstleistungen (wie z.B. den Friseurbesuch). Das hat nichts mit jährlichem Mallorcaurlaub oder anderen Luxusgütern zu tun sondern mit der Würde jedes Einzelnen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Carsten Sieling, MdB