Frage an Carola Stauche von Holger L. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrte Frau Stauche,
Nun hat sich auch in Deutschland,nach österreichischen und schweizerischen Modell ein „Alternativer Wissenskongress NRW“ gegründet.Auf der 2.Konferenz am 28.02.2016, unter dem Motto,-Demokratie in Gefahr – Politik gegen das Volk?-, sprach der vermutlich Ihnen bekannte Prof. Dr. iur. Karl Albrecht Schnachtschneider.Er hielt einen Vortrag mit der Überschrift: „RECHTSSTAAT – Realität oder Schein?“.Im seinem Vortrag äußerte er sich zur immer noch für Deutschland gültigen Feindstaatenklausel in der UNO-Charta. Prinzipiell sieht er wohl anders als Schäuble in Deutschland einen souveränen Staat.
Eine Besonderheit beeinträchtigt die Souveränität jedoch erheblich, und das ist die Feindstaatenklausel. Deutschland ist immer noch Feindstaat, alle anderen Staaten bis hin zu Japan haben einen Friedensvertrag. Die Feindstaatenklausel besagt, dass wenn Deutschland die kriegerischen Handlungen des zweiten Weltkrieges wieder aufnimmt, Deutschland keinerlei Schutz durch das Völkerrecht hat. Die Vertragsstaaten können jede Maßnahme treffen bis zum Einsatz von Atomwaffen.
Mich verwirrt und beunruhigt diese Aussage von Herrn Schachtschneider. Was meint er mit Wiederaufnahme kriegerischen Handlungen des zweiten Weltkrieges? Ich dachte der zweite Weltkrieg ist 1945 beendet worden! Warum hat Deutschland keinen Friedensvertrag? Warum wird diese Klausel in der UNO-Charta nicht gestrichen? Warum wurde im 2+4 Vertrag nicht explizit der Verzicht der Feindstaatenklausel festgehalten?
Einen Unterschied sieht Schachtschneider dennoch bei der Souveränität Deutschlands im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten der UNO. Im Völkerrecht steht, das Deutschland die volle Souveränität zugestanden wird, jedoch nicht die gleiche Souveränität. Ist die Souveränität Deutschlands also von der Einhaltung der Feindstaatenklausel abhängig?
Sehr geehrter Herr Ludwig,
vorweg zu Ihrer Frage: Den vollständigen Vortrag von Herrn Prof. Dr. Schachtschneider habe ich mir nicht angehört, so dass sich meine Antwort ausschließlich auf Ihre Wiedergabe des Sachverhalts bezieht. Deshalb kann ich Ihnen leider nicht erklären, was Herr Schachtschneider „mit Wiederaufnahme kriegerischen Handlungen des zweiten Weltkrieges“ meint.
Zu Ihrer Anfrage im Detail: Die sogenannte Feindstaatenklausel der UN-Charta und die Frage nach einem Friedensvertrag für Deutschland sind zwei zwar verwandte, aber unterschiedliche Themen.
Zur Feindstaatenklausel:
Die UN-Feindstaatenklausel ist in den Artikeln 53, 77 und 107 der Charta der Vereinten Nationen festgehalten. Sie entstand im Jahre 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Definition von „Feindstaat“ findet sich in Art. 53 (2):
- "Der Ausdruck „Feindstaat“ in Absatz 1 bezeichnet jeden Staat, der während des Zweiten Weltkriegs Feind eines Unterzeichners dieser Charta war."
In Art. 53 (1) heißt es:
- "(1) Der Sicherheitsrat nimmt gegebenenfalls diese regionalen Abmachungen oder Einrichtungen [die im vorherigen Art. 52 thematisiert werden] zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen unter seiner Autorität in Anspruch. Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrats dürfen Zwangsmaßnahmen auf Grund regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen nicht ergriffen werden; ausgenommen sind Maßnahmen gegen einen Feindstaat im Sinne des Absatzes 2, soweit sie in Artikel 107 oder in regionalen, gegen die Wiederaufnahme der Angriffspolitik eines solchen Staates gerichteten Abmachungen vorgesehen sind; die Ausnahme gilt, bis der Organisation auf Ersuchen der beteiligten Regierungen die Aufgabe zugewiesen wird, neue Angriffe eines solchen Staates zu verhüten."
In Art. 77 heißt es:
- "(1) Das Treuhandsystem findet auf die zu den folgenden Gruppen gehörenden Hoheitsgebiete Anwendung, soweit sie auf Grund von Treuhandabkommen in dieses System einbezogen werden:
a) gegenwärtig bestehende Mandatsgebiete;
b) Hoheitsgebiete, die infolge des Zweiten Weltkriegs von Feindstaaten abgetrennt werden;
[…]"
In Art. 107 heißt es:
- "Maßnahmen, welche die hierfür verantwortlichen Regierungen als Folge des Zweiten Weltkriegs in bezug auf einen Staat ergreifen oder genehmigen, der während dieses Krieges Feind eines Unterzeichnerstaats dieser Charta war, werden durch diese Charta weder außer Kraft gesetzt noch untersagt."
Wesentliche Aussage dieser Artikel ist, dass die Unterzeichnerstaaten ohne Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat gegen die sogenannten Feindstaaten vorgehen können, wenn diese wieder militärisch aggressiv werden würden.
Alle diese Artikel sind jedoch im Zusammenhang der speziellen Situation kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu lesen. So sind beispielsweise vor der Erwähnung der Feindstaaten in Art. 77 auch Mandatsgebiete aufgeführt; solche gibt es heutzutage ebenfalls nicht mehr.
Die Feindstaatenklausel spielt heutzutage keine Rolle mehr, da sich die weltpolitischen Gegebenheiten grundlegend gewandelt haben. Der Bezug in Art. 77 ist beispielsweise erledigt, weil im Zwei-plus-vier-Vertrag die 1945 abgetrennten deutschen Ostgebiete völkerrechtlich als Teil Polens anerkannt wurden.
Im Jahre 1995 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Resolution zu Charta-Fragen; die Feindstaatenklausel wurde hier als hinfällig bezeichnet. In deutscher Übersetzung heißt es unter anderem: "Die Generalversammlung, […] in der Erwägung, daß die "Feindstaaten"-Klauseln in den Artikeln 53, 77 und 107 der Charta in Anbetracht der weitreichenden Veränderungen, die in der Welt eingetreten sind, hinfällig geworden sind, feststellend, daß die Staaten, auf die sich diese Klauseln bezogen haben, Mitglieder der Vereinten Nationen sind und einen wertvollen Beitrag zu allen Bemühungen der Organisation leisten, unter Berücksichtigung des komplexen Prozesses, der mit einer Änderung der Charta verbunden ist, […] bringt ihre Absicht zum Ausdruck, auf ihrer nächsten dafür geeigneten Tagung das in Artikel 108 der Charta der Vereinten Nationen vorgesehene Verfahren für eine Änderung der Charta, mit in die Zukunft gerichteter Wirkung, durch Streichung der „Feindstaaten“-Klauseln in den Artikeln 53, 77 und 107 einzuleiten; […]" (Englisches Original unter http://www.un.org/documents/ga/res/50/ares50-52.htm)
Zu dieser Streichung ist es bisher nicht gekommen; allerdings wird in der Resolution selbst darauf hingewiesen, dass eine Änderung der Charta (und entsprechend auch eine Streichung) ein komplexer Prozess ist (vermutlich würden bei einer Änderung noch zahlreiche andere Änderungswünsche bearbeitet werden müssen, was das Verfahren noch einmal deutlich schwieriger machen würde).
Bereits vor der deutschen Wiedervereinigung hatte es deutliche Relativierungen der Feindstaatenklausel gegeben: Die USA, Großbritannien und Frankreich hatten bereits 1969, nach Abschluss der Atomwaffensperrvertrages, erklärt, dass die Feindstaatenklausel kein Recht zur gewaltsamen Intervention in Deutschland erlaubt. Die Ostverträge (1970 bis 1973) legten Ähnliches von seiten der Sowjetunion fest.
Zu Friedensvertrag und Souveränität:
Es ist richtig, dass die Bundesrepublik Deutschland keinen Friedensvertrag geschlossen hat, der ausdrücklich diesen Namen trägt. Das ist jedoch auch nicht nötig, denn der Zwei-plus-vier-Vertrag ist unter anderem auf den Frieden zwischen den Vertragsstaaten gerichtet (allerdings auch darüber hinaus auf andere Dinge). Daneben sei erwähnt, dass ein Friedensvertrag völkerrechtlich nicht die einzige Möglichkeit zur Beendigung eines Krieges ist.
Der Zwei-plus-vier-Vertrag ist die Friedensregelung Deutschlands mit den alliierten Besatzungsmöchten nach dem Zweiten Weltkrieg und beendete alle besatzungsrechtlichen Beschränkungen. Durch den Vertrag gewann Deutschland volle innere und äußere Souveränität. Diese Regelungen konnten erst so spät getroffen werden, weil durch die Blockbildung nach dem Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg und die deutsche Teilung vorher keine entsprechende Regelung möglich war.
In diesem Zusammenhang möchte ich gern auch noch auf eine Nebenbemerkung von Ihnen eingehen: Sie schreiben „Prinzipiell sieht er wohl anders als Schäuble in Deutschland einen souveränen Staat.“ und behaupten damit, Wolfgang Schäuble würde Deutschland nicht als souveränen Staat betrachten. Damit beziehen Sie sich vermutlich auf eine Rede von Herrn Schäuble vor dem European Banking Congress im November 2011 in Frankfurt / Main.
Das volle Zitat von Herrn Schäuble lautet: „Die Kritiker, die meinen, man müsse eine Konkurrenz zwischen allen Politikbereichen haben, die gehen ja in Wahrheit von dem Regelungsmonopol des Nationalstaates aus. Das war die alte Ordnung, die dem Völkerrecht noch zugrunde liegt, mit dem Begriff der Souveränität, die in Europa längst ad absurdum geführt worden ist, spätestens seit den zwei Weltkriegen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Und wir in Deutschland sind seit dem 8. Mai 1945 zu keinem Zeitpunkt mehr voll souverän gewesen. Und deswegen ist der Versuch in der europäischen Einigung eine neue Form von Gouvernements zu schaffen, wo es eben nicht eine Ebene, die dann nicht für alles zuständig ist und dann im Zweifel durch völkerrechtliche Verträge bestimmte Dinge auf andere überträgt, nach meiner festen Überzeugung für das 21.Jahrhundert ein sehr viel zukunftsweisender Ansatz, als der Rückfall in die Regelungsmonopol-Stellung des klassischen Nationalstaates vergangener Jahrhunderte.“
Dazu erklärt Wolfgang Schäuble selbst auf abgeordnetenwatch.de: „Hinsichtlich Ihrer Frage handelt es sich also um einen Hinweis auf die eingeschränkten Hoheitsrechte eines Staates innerhalb einer supranationalen Gemeinschaft wie der Europäischen Union. Diese Lage bestand auch schon nach der deutschen Wiedervereinigung, dies ist insofern keine Neuigkeit sowohl für die Zukunft als auch die Vergangenheit.“ (Quelle: http://www.abgeordnetenwatch.de/dr_wolfgang_sch_uble-575-37919.html#questions, suchen nach "souverän")
Bis zur Wiedervereinigung 1990 hatten sich die Alliierten bestimmte Rechte vorbehalten (bis 1955 Besatzungsstatut, bis 1990 Alliierte Vorbehaltsrechte). Dies wurde mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag vollständig und ausdrücklich aufgehoben, so dass Deutschland volle außen- und innenpolitische Souveränität erlangte.
Zu diesem Zeitpunkt war die Bundesrepublik Deutschland bereits seit Jahrzehnten in den europäischen Einigungsprozess eingebunden und hatte in dessen Rahmen Hoheitsrechte in bestimmten Politikbereichen an die supranationalen Europäischen Gemeinschaften (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft etc.) freiwillig abgegeben. Dennoch hat Deutschland 1990 mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag volle außen- und innenpolitische Souveränität erlangt: Es kann die Mitgliedschaft in internationalen und auch supranationalen Einrichtungen wie der EU selbst bestimmen, gestalten, und wenn gewünscht, auch beenden. Dabei sollten wir jedoch bedenken, dass ein Austritt aus der EU Deutschland wesentlich mehr schaden als nützen würde. Man muss hier also auch unterscheiden zwischen staatsrechtlicher und politischer Souveränität: Wenn Deutschland die Vorteile eines geeinten Europa genießen möchte, dann muss es sich in seinem Handeln mit anderen Mitgliedsstaaten koordinieren und gegebenenfalls auch Kompromisse hinnehmen.
Zusammengefasst heißt das:
Die Feindstaatenklausel in der UN-Charta ist hinfällig; sie entstand unter besonderen Umständen, die heutzutage nicht mehr gegeben sind, und war in besonderer Weise an die Vorbehaltsrechte der Alliierten bis zur deutschen Wiedervereinigung gebunden. Die UN-Generalversammlung hat die Klausel für hinfällig erklärt. Sie wurde nur noch nicht gestrichen, weil die Änderung der Charta ein sehr komplexer Prozess ist, der bisher noch nicht in Angriff genommen wurde.
Der Zweite Weltkrieg wurde 1945 militärisch beendet; der Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990 stellt auch das rechtliche Ende dar, da er eine friedensvertragliche Regelung ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist zwar durch eigene Entscheidung in zahlreiche Vertragswerke eingebunden, die auch bestimmte Verpflichtungen beinhalten, ist aber dennoch ein innen- wie außenpolitisch souveräner Staat.
Sehr geehrter Herr Ludwig, ich hoffe, Ihnen mit dieser Antwort weitergeholfen zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Carola Stauche