Frage an Carola Stauche von Hubertus S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrte Frau Stauche,
in einem Artikel fand ich einen Bericht über den „Tag der Legionäre“ in Lettland. Ehemalige Angehörige der Waffen-SS ehren damit ihre ehem. Mitglieder. 140.000 Letten waren während des Krieges Mitglieder der „Lettischen SS-Freiwilligenlegion“. Zehntausende Juden wurden in und um Riga damals umgebracht. Die Angehörigen dieser Einheiten beziehen heute Altersrente für diesen Zeitraum aus der Bundesrepublik. Können Sie mir diesen Fakt erklären? Warum gibt es seitens der Regierung und Ihrer Partei dazu keine öffentlichen Erklärungen? Warum verurteilt die Bundesregierung, wie in anderen Fällen, solche Entwicklung in einem EU-Land nicht? Ich erinnere auch daran, wie schwer sich die Bundesrepublik mit der Entschädigung von Zwangsarbeitern und anderen Geschädigten durch die Nazis tut.
Mit freundlichen Grüßen
Hubertus Scholz
Wittmannsgereuth
Sehr geehrter Herr Scholz,
Ihre Anfrage möchte ich inhaltlich in zwei Themenfelder aufschlüsseln und entsprechend beantworten. Das eine ist die jährliche Gedenkveranstaltung der „Lettischen SS-Freiwilligenlegion“, das andere die Rentenzahlungen an Angehörige dieses Verbandes.
Zum ersten Punkt (Gedenkveranstaltung):
Natürlich mutet es seltsam und fragwürdig an, dass in einem EU-Mitgliedsstaat heutzutage mit öffentlichen Veranstaltungen an SS-Verbände erinnert wird. Jedoch muss dabei Folgendes bedacht werden:
1.) Es gibt ein Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Auch in Deutschland gibt es Versammlungen, die die Mehrheitsbevölkerung irritieren, aber vom Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit gedeckt sind.
2.) Ein Gedenken ist etwas anderes ist als eine Verherrlichung.
3.) Die besondere Geschichte Lettlands im Zweiten Weltkrieg und dessen Umfeld: Erst 1918 wurde Lettland von Russland unabhängig; noch vor dem deutschen Einmarsch 1941 wurde Lettland 1939/1940 von der Sowjetunion besetzt und litt unter der Okkupation (das sollte sich nach der sowjetischen Rückeroberung fortsetzen). Deshalb wurden von so manchen Letten die Deutschen als Befreier wahrgenommen. Interessant ist auch, dass die Deutschen sich lange Zeit weigerten, lettische Militärverbände aufzustellen, um keine Erwartungen in Richtung eigener lettischer Staatlichkeit zu wecken. Und in der Tat war mit der Aufstellung lettischer Verbände auf Seiten der Letten auch die mittelfristige Hoffnung nach staatlicher Eigenständigkeit verbunden. Insofern muss bedacht werden, dass lettische „Freiwillige“ in ihrer eigenen Wahrnehmung nicht für den Nationalsozialismus, sondern in erster Linie gegen die vormaligen sowjetischen Besatzer kämpften. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden
4.) Die entsprechenden Gedenkveranstaltungen sind auch in Lettland selbst umstritten, so gibt es Gegendemonstrationen, und im Jahre 2014 wurde der lettische Umweltminister entlassen, weil er angekündigt hatte, an der Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Die lettische Präsidentin Vike-Freiberga hatte bereits im Jahre 200 öffentlich erklärt, dass eine Beteiligung von Inhabern öffentlicher Ämter an der Veranstaltung am 16. März politisch nicht erwünscht sei.
5.) Im Jahre 2001 antwortet die Bundesregierung auf eine Anfrage der PDS-Fraktion: „Nach Kenntnis der Bundesregierung betrachten sich die lettischen Veteranen in ihrem Gedenken an die „Lettische Legion“ als ehemalige Kämpfer für die Unabhängigkeit ihres Landes gegen die Rote Armee.“ In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag von 2015 heißt es von Seiten der Bundesregierung: „Nach dem heutigen Stand der Forschung ist es nicht zutreffend, Mitgliedern von nationalen Unabhängigkeitsbewegungen, die – unter nationalsozialistischem Kommando – gegen die Rote Armee gekämpft haben, pauschal eine Beteiligung an „antisemitischen Pogromen und Mordaktionen“ zu unterstellen. Dass auch Individuen innerhalb nationaler Unabhängigkeitsbewegungen an solchen Verbrechen beteiligt waren, wird in der Forschung nicht angezweifelt.“ Tatsächlich waren die lettischen SS-Verbände als Verbände nicht an der systematischen Judenverfolgung beteiligt, sondern wurden als Kampftruppen eingesetzt. Das zeigt sich schon allein daran, dass die lettischen SS-Verbände erst 1943 aufgestellt wurden; das Massaker im Wald von Rumbula, dem 27.500 Juden zum Opfer fielen, wurde Ende 1941 verübt.
Ich betone nachdrücklich, dass ich die nationalsozialistischen Verbrechen und die Beteiligung einheimischer Kollaborateure weder wegdiskutieren noch relativieren möchte. Aber ich will deutlich darauf hinweisen, dass die jährlichen Gedenkveranstaltungen in Lettland nicht allein aus deutscher Perspektive betrachtet werden können, sondern auch im Kontext der Geschichte, insbesondere der Staatswerdung Lettlands und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu verstehen sind.
Zum zweiten Punkt (Rentenzahlungen):
Hier gilt: Die Voraussetzungen für die Zahlung von Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung sind im Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) geregelt. Für die Zahlung einer Regelaltersrente kommt es nur darauf an, ob die Mindestversicherungszeit von fünf Jahren erfüllt und die Regelaltersgrenze erreicht ist. Die lettischen SS-Angehörigen haben ihren Dienst geleistet für das Deutsche Reich, dessen Rechtsnachfolgerin die Bundesrepublik Deutschland ist. Entsprechend hat die Bundesrepublik Deutschland auch die rentenrechtlichen Verpflichtungen übernommen.
Das Rentenrecht kann allerdings keine Aufgaben des Strafrechts übernehmen. Deshalb wird nicht geprüft, ob ein Rentenantragsteller im Verdacht steht, an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein. Es ist mir völlig klar, dass das zu Unverständnis führen kann. Aber die Aufgabe des Rentenrechts war und ist nicht eine strafrechtliche Beurteilung von Tätigkeiten im Einzelfall. Zum vollständigen Bild gehört auch, dass ehemaligen lettischen SS-Angehörigen Dienstzeiten nur für Zeiten im Fronteinsatz für die Rente anerkannt werden, nicht jedoch zum Beispiel für Zeiten als Bewacher in Ghettos oder Konzentrationslagern: Die sogenannten Ersatzzeiten, die unter anderem für „Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes“ in Frage kommen, werden nur unter den Voraussetzungen des § 250 SGB VI in Verbindung mit §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anerkannt.
Um einen militärähnlichen Dienst im Sinne von § 3 BVG handelt es sich zum Beispiel, wenn die Einheit unter einem militärischen Befehlshaber für Zwecke der Wehrmacht eingesetzt worden ist. Für „Zwecke der Wehrmacht“ ist grundsätzlich der Dienst geleistet, der im Kriegseinsatz wie der Dienst eines Soldaten geleistet wurde.
Aufgrund einer Kriegsverletzung können Renten nach dem BVG gezahlt werden (Versorgungsrenten). Für die Durchführung des BVG sind die Bundesländer zuständig; für in Lettland lebende Bezieher einer Versorgungsrente nach dem BVG ist das Land Baden-Württemberg zuständig. Renten nach dem BVG können entzogen werden, wenn ein Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtstaatlichkeit nachgewiesen ist (§ 1a BVG).
Mit freundlichen Grüßen
Carola Stauche