Frage an Brigitte Zypries von Iris E. bezüglich Recht
Sehr geehrte Frau Zypries,
§§ 107 ff des Strafgesetzbuches handeln vom Wahlbetrug, dessen verschiedene Variationen verboten sind. Erstaunlicherweise gilt das strafrechtliche Verbot des Wahlbetruges jedoch nur für das Volk. Betrügereien in Parlamenten durch Abgeordnete erscheinen davon ausgenommen, wie § 108d StGB vermuten lässt:
§ 108d. Geltungsbereich.
Die §§ 107 bis 108c gelten für Wahlen zu den Volksvertretungen, für die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, für sonstige Wahlen und Abstimmungen des Volkes im Bund, in den Ländern, Gemeinden und Gemeindeverbänden sowie für Urwahlen in der Sozialversicherung. Einer Wahl oder Abstimmung steht das Unterschreiben eines Wahlvorschlags oder das Unterschreiben für ein Volksbegehren gleich.
Meine Frage:
1) Warum ist Wahlbetrug nur für den gemeinen Wähler, das Volk, strafbar, nicht jedoch für Abgeordnete, wenn sie im Parlament bei Wahlen betrügen?
2) Wäre es im Hinblick auf den Beinahe-Abstimmungsbetrug in Hessen (Handy-Affäre) nicht dringend notwendig, versuchte oder tatsächliche Betrügereien bei Abstimmungen in Parlamenten ebenfalls strafrechtlich zu verbieten? Oder sind Abgeordnete etwas besseres, die im Gegensatz zum gemeinen Volk niemals an Betrügereien bei geheimen Abstimmungen in Parlamenten denken?
3) Was ist der historische Hintergrund für einen solch dubiosen Paragraphen wie 108d StGB?
freundliche Grüße
Iris Ertan
Sehr geehrte Frau Ertan,
§ 108d des Strafgesetzbuches (StGB) beinhaltet keinen eigenständigen Straftatbestand, sondern legt den Anwendungsbereich der Straftaten bei Wahlen und Abstimmungen (§§ 107 bis 108c StGB) fest. Die Vorschrift ist durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953 - ursprünglich als § 109a - in das StGB eingefügt worden. Die Einbeziehung der Urwahlen in der Sozialversicherung erfolgte durch das Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung vom 23. Dezember 1976, der Wahlen zum Europaparlament durch das Europawahlgesetz vom 16. Juni 1978. Eine Strafbarkeit des "Wahlbetrugs nur für den gemeinen Wähler" sehen die §§ 107 bis 108c StGB allerdings nicht vor; vielmehr werden "Wahlbehinderung" (§ 107), "Wahlfälschung" (§ 107a), die "Fälschung von Wahlunterlagen" (§ 107b), die "Verletzung des Wahlgeheimnisses" (§ 107c), "Wählernötigung" (§ 108), "Wählertäuschung"(§ 108a) und "Wählerbestechung" (§108b) unter Strafe gestellt. Damit soll der ordnungsgemäße Ablauf der Wahlen des Volkes, die in Ausübung staatsbürgerlicher Rechte erfolgt, umfassend strafrechtlich abgesichert werden. Durch die §§ 107 bis 108c StGB werden mithin die unmittelbare Willensbildung der Bürger bei allen Wahlen und Abstimmungen zu den Parlamenten geschützt. Über seinen Wortlaut hinaus fallen andere Wahlen und Abstimmungen in öffentlichen Angelegenheiten nicht in den Anwendungsbereich der §§ 107 ff. StGB, beispielsweise solche in Richterwahlausschüssen, in Standes- oder Berufsorganisationen, in Kirchen, innerhalb von Körperschaften der Staatsverwaltung oder zu Personal- und Betriebsräten. Dementsprechend wird auch die Ordnungsgemäßheit der Wahlen und Abstimmungen der Abgeordneten in den Parlamenten in erster Linie durch die entsprechenden Wahl- und Abstimmungsordnungen gewährleistet. Darüber hinaus ist durch das 28. Strafrechtsänderungsgesetz vom 13. Januar 1994 der Tatbestand der "Abgeordnetenbestechung" (§ 108e) in das StGB eingefügt worden, durch den die Integrität des parlamentarischen Meinungsbildungsprozesses sowie der Mandatsausübung vor unlauteren Manipulationen geschützt werden soll.
Mit freundlichen Grüßen
Brigitte Zypries