Frage an Brigitte Zypries von Dietmar B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Ministerin
zu den vornehmsten Aufgaben Ihres Amtes gehört sicher die Wahrung des demokratischen Rechtsstaates. Wie einige Urteile des Bundesverfassungsgerichtes belegen, sind nicht alle Gesetze und Reformen die in den letzten Jahren verabschiedet wurden in allen Punkten verfassungskonform. Hierzu meine Frage:
Durch die Verpflichtung von Hartz IV Empfängern, jede Arbeit zu jedem Lohn annehmen zu müssen, ist die Vertragsfreiheit einseitig aufgehoben. Wäre nicht alleine schon deshalb ein Mindestlohn zwingend notwendig um die gesetzgeberische Auslegung der Grundrechte der Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG, im Sinne des Grundgesetzes zu gestalten ?
Eine zweite Frage. Eine Ehe ist m.E. juristisch gesehen eine gegenseitige Willenserklärung für die jeweils andere Person Sorge tragen zu wollen. Bei den sog. Bedarfsgemeinschaften wird ein solcher Wille von Staats wegen vermutet. Selbst eine gegenteilige eidesstattliche Versicherung des Betroffenen hat dabei weniger Gewicht, wie die Vermutung des Willens durch den Staat. Wie ist dies in einem demokratischen Rechtsstaat zu erklären ?
Vielen Dank und schöne Grüße aus Wiesbaden
Dietmar Brach
Sehr geehrter Herr Brach,
in Deutschland wird niemand gezwungen, „jede Arbeit zu jedem Lohn“ anzunehmen.
Es ist allerdings richtig, dass es für Empfänger von ALG II eine Obliegenheit gibt, jeden zumutbaren Job anzunehmen, um nicht Leistungskürzungen zu riskieren. Dieser Druck auf die ALG II-Empfänger ist aber gewollt, da das ALG II keine Endstation für die Empfänger sein soll, sondern nur existenzsicherndes Minimum zur Überbrückung der Zeit bis zur nächsten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Die Verpflichtung ist aus Verfassungsgründen zulässig, da andernfalls Sozialleistungen aus Steuermitteln gezahlt werden müssen.
Bei Ihrer Forderung nach einem Mindestlohn rennen Sie bei uns Sozialdemokraten offene Türen ein. Arbeit soll sich lohnen. Wir wollen, dass alle Bürgerinnen und Bürger von ihren Erwerbseinkommen auch leben können. Deshalb tritt die SPD entschieden für einen Mindestlohn ein. Denn gerade beim Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt werden oft Löhne angeboten, die für einen Vollzeitarbeitsplatz viel zu niedrig sind. Mindestlöhne sind eine Frage der Würde und entsprechen den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Kurz zusammengefasst: Wir wollen gerechte Löhne für gute Arbeit. Und dieses Ziel lässt sich, das haben die Erfahrungen der Vergangenheit gezeigt, nur über einen gesetzlichen Mindestlohn erreichen.
Nun noch ein paar Worte zum Thema „Bedarfgemeinschaft“: Es ist nicht so, dass der Wille zu einer Bedarfsgemeinschaft „von Staats wegen vermutet“ wird, wie Sie schreiben. Die Existenz einer Bedarfgemeinschaft wird vielmehr nach objektiven Gesichtspunkten beurteilt. Als Anhaltspunkt existiert ein gesetzlicher Katalog, der bestimmte Merkmale aufzählt, bei deren Vorliegen eine Bedarfsgemeinschaft vermutet wird. Eine bloße Wohn- oder Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft genügt dafür beispielsweise nicht. Ist einer der gesetzlichen Vermutungstatbestände erfüllt, trifft den Anspruchsteller die Beweislast, dass doch keine Bedarfsgemeinschaft vorliegt. Dabei muss der Betroffene substantiiert darlegen, warum trotz der Erfüllung eines gesetzlichen Vermutungstatbestandes doch keine Bedarfsgemeinschaft vorliegt. Eine eidesstattliche Versicherung ist hier ein möglicher Weg. Es kommt aber immer auf eine Würdigung der Gesamtumstände des Falles an. Ob das Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft im Einzelfall widerlegt ist oder nicht, müssen im Zweifel die Gerichte entscheiden.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre Brigitte Zypries