Frage an Bodo Ramelow von Stephan B. bezüglich Wirtschaft
Sehr geehrter Herr Ramelow,
ich danke Ihnen für Ihre Antwort vom 30.7.2008 und habe nun eine Frage aus aktuellem Anlass.
Spiegel Online berichtete vor wenigen Tagen: "Die Billiglohnregion der Republik liegt im Osten: Nach einer Gewerkschaftsstudie arbeiten die Menschen in Thüringen im Schnitt am längsten - aber verdienen am wenigsten." Siehe http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,576994,00.html für den ganzen Artikel. Mich überraschte diese Meldung, d.h. ich hätte uns im Lohn wenigstens vor Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gesehen.
Das Thema habe ich in einem Internet-Forum angeschnitten und fragte, ob dies an geringeren Lebenshaltungskosten in Thüringen liegen mag. Exil-Thüringer aus bspw. München oder Frankfurt meinten aber, dass zwar die Mieten und die Gastronomie in Thüringen teilweise günstiger sei als dort, aber bspw. Wasser und Energie (Gas, Strom, Sprit) sogar teurer.
Meine Fragen an Sie also:
1. Woran liegt es ihrer Meinung nach, dass Thüringen die geringsten Löhne hat? Zieht ein ausufernder Niedriglohnsektor den Lohndurchschnitt soweit herunter oder sind auch die Normallöhne viel zu niedrig? Oder ist dies nur ein demographisches Problem oder gibt es zu wenig Ballungszentren bzw. Technologiezentren in Thüringen? Was denken Sie?
2. Wie könnte man der Ursache begegnen? (Das Programm 2020 und damit die Punkte "Förderung von KMU", "ÖBS", usw. sind mir mittlerweile bekannt. Was hilft davon in diesem Punkt?)
Selbstverständlich ist mir bewusst, dass die Verhältnisse nicht in einem Satz erklärt werden können, daher habe ich nichts dagegen, wenn Sie etwas umfangreicher antworten. :-)
Mit neugierigem und freundlichem Gruß,
Stephan Beyer
Sehr geehrter Herr Beyer,
meiner Ansicht nach sind vor allem zwei Ursachenkomplexe für die niedrigen Löhne relevant. Erstens wurde in der Zeit der wirtschaftlichen Umstrukturierungen nach dem Ende der DDR in Thüringen der Kurs der Deindustrialisierung besonders rigide vollzogen. Im Prozess der Privatisierung ehemals volkseigener Betriebe sind industrielle Kerne und große Unternehmen bewusst nicht erhalten worden. Das war Regierungspolitik der ersten Thüringer Koalition aus CDU und FDP, die gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt wurde. Ich möchte eine Zahl nennen, um einen Eindruck von der Dimension des Abbaus zu vermitteln. Allein im Verarbeitenden Gewerbe, dem ja eine Schlüsselrolle zukommt, sind in Thüringen zwischen Januar 1991 und Januar 1992 fast 300.000 Arbeitsplätze weggefallen, damit hatten 74 Prozent aller dort beschäftigten Menschen ihre Arbeit verloren.
In der Folge ist die Wirtschaftsstruktur in Thüringen äußerst kleinteilig. Im aktuellen „IAB-Betriebspanel Länderbericht Thüringen" ist für 2007 ausgewiesen, dass 75 Prozent der Unternehmen weniger als zehn Beschäftigte haben, 48 Prozent sogar weniger als fünf. Diese kleinen Unternehmen, die in aller Regel über einen geringeren Anteil an hochwertigen Stellen verfügen und für die auch eine geringe Tarifbindung typisch ist, zahlen niedrigere Löhne als Großunternehmen. Ein damit zusammenhängendes Problem ist das der niedrigen Produktivität, die bei allem Fleiß und Einsatz der Beteiligten in Kleinunternehmen existiert. Außerdem spielt der stark gewachsene Niedriglohnsektor eine Rolle. Sein Ausbau war gewollt, niedrige Löhne sind jahrelang von Regierungsmitgliedern offiziell als „Standortvorteil“ bezeichnet und von der landeseigenen Landesentwicklungsgesellschaft bei der Investorensuche bewusst beworben worden (Sozialministerin Lieberknecht argumentierte noch im Juni 2008 in diese Richtung). Das hat natürlich Konsequenzen. Laut Arbeitsmarktstatistik handelte es sich 2006 bei fast 34 Prozent aller Beschäftigungsverhältnissen in Thüringen um „nicht standarisierte Beschäftigung“, also um befristete Stellen, Teilzeitarbeit, Minijobs, prekäre Jobs. Angewachsen ist auch die im Vergleich mit den Stammbelegschaften deutlich schlechter bezahlte Leiharbeit, Thüringen verzeichnete 2007 die bundesweit zweithöchsteLeiharbeitsquote.
Um dem zu begegnen, müssen zunächst auf Bundesebene die Auswüchse des Lohndumpings durch einen gesetzlichen Mindestlohn gestoppt werden. In der Landespolitik halte ich eine alternative Konzeption von Wirtschaftsförderung unter dem Motto „Regional vor Global“ für dringend notwendig. Ziel muss die Schaffung und Erhaltung von Existenz sichernden Arbeitsplätzen in nachhaltigen Zukunftsbranchen der Region sein. Wirtschaftsförderung ist dann nicht Selbstzweck, sondern zielt auf den sozial-ökologischen Umbau und auf Beschäftigungswirksamkeit. Das ist zu erreichen durch die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe, um die Bedingungen für regional produzierende kleine und mittlere Unternehmen sowie für alternative Formen der wirtschaftlichen Betätigung (z.B. in der Kommunalwirtschaft oder in Genossenschaften) zu verbessern und ihnen günstigere Ausgangsmöglichkeiten zur Teilnahme an Innovations- und Vermarktungsprozessen zu schaffen. Kooperation, Vernetzung und Clusterbildung sind Schlüsselelemente dieses alternativen Wirtschaftens, mit denen auch die Produktivitätsrückstände kleiner Unternehmen reduziert werden können. Auch der Wissenstransfer aus der Forschung in die regionalen Unternehmen spielt eine wichtige Rolle. Wenn zudem die Mittel der aktiven Arbeitsmarktpolitik gebündelt werden, um Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge im Nonprofit-Sektor zu gewährleisten, wird auf sinnvolle Weise Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert.
Mit freundlichem Gruß
Bodo Ramelow