Frage an Bettina Hagedorn von Volker P. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Sehr geehrte Frau Hagedorn,
ich arbeite seit meinem 14.Lebensjahr und zahle seitdem auch in die Rentenversicherung ein.Warum macht man die Lebensarbeitszeit nicht davon abhängig,wie lange jemand in die Rentenversicherung eingezahlt hat?Leider vermisse ich diese Diskussion bei der SPD .Ich fände es viel gerechter wenn man z.B.sagen würde wer 45 Jahre eingezahlt hat kann in den Ruhestand gehen.
Mit freundlichen grüßen
volker Pack
Sehr geehrter Herr Pack,
vielen Dank für Ihre Frage auf abgeordnetenwatch.de zur Bedeutung der Lebensarbeitszeit für die Rente. Ich geben Ihnen Recht, dass dies ein wichtiger Teil der Diskussion um das Renteneintrittsalter sein muss – wenn jemand 45 Jahre hart für seine Rente gearbeitet hat, dann erwartet derjenige zu Recht, dass er ohne Abschläge in Rente gehen kann, gerade bei schwerer körperlicher Arbeit.
Diese wichtige Gerechtigkeitsfrage wird auch in der SPD intensiv diskutiert. Aktuell am 2. Dezember 2010 hat der Bundestag in einer Plenardebatte darüber strittig diskutiert, ob die beschlossene schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Lebensjahre bis 2029 nicht angesichts der momentan noch unzureichenden Beschäftigungschancen für Ältere ausgesetzt werden muss
(Antrag der SPD-Fraktion „Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben nutzen – Arbeitsbedingungen verbessern – Rentenzugang flexibilisieren“) . Für die SPD redete der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, der einerseits nicht bestritt, dass es ein demografisches Problem in der Rentenkasse gibt und dass zur Bewältigung dieses Problems die Anhebung des Rentenalters – also eine längere Lebensarbeitszeit – eine der notwendigen Antworten ist. Er wies aber andererseits zu Recht darauf hin, dass das Gesetz zur Einführung der „Rente mit 67“ eine Überprüfung der Beschäftigungschancen von älteren aktiven Arbeitern und Angestellten VOR der Einführung gefordert hat, die JETZT erfolgen müsste. Die SPD ist überzeugt, dass – wer das Gesetz ernst nimmt und seriös die Beschäftigungsquote der 60- bis 64-Jährigen analysiert – die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters vertagen muss. Denn wenn die Chancen Älterer auf gute Arbeit nicht deutlich steigen, wenn die Erwerbsminderungsrente nicht verbessert wird, gerade für jene, die körperlich hart arbeiten und gesundheitlich beeinträchtigt sind, dann bedeutet für diese Arbeiter und Angestellten die Anhebung des Rentenalters am Ende eines langen Arbeitslebens faktisch eine Rentenkürzung durch zusätzliche Abschläge – das haben wir als Gesetzgeber nicht beabsichtigt, das ist weder gerecht noch vernünftig und es verschärft das Problem von Armutsrenten.
Das Protokoll dieser gesamten Bundestagsdebatte zur Rente und den Antrag der SPD-Fraktion können Sie unter den Links nachlesen oder zu meinem Büro Kontakt aufnehmen, das Ihnen beide Dokumente auch gerne per Post zuschicken wird.
Bereits am 23. August 2010 hatte das SPD-Parteipräsidium einen Beschluss zum gleichen Thema gefasst, der unter dem Titel
„Gut und sicher leben: Perspektiven schaffen für Arbeit und sichere Altersvorsorge“ steht. Darin wird vor allem kritisiert, dass in der Debatte um den demografischen Wandel die Realität in der Arbeitswelt immer mehr aus dem Blick geraten ist. Zum einen hat der gerade in den letzten Jahren immer weiter angewachsene Niedriglohnbereich dafür gesorgt, dass viele Menschen nur geringen Rentenansprüche erworben haben – zum anderen wurden die unterschiedlichen Belastungen und körperlichen Herausforderungen, die sich für Arbeiter und Angestellte stellen, nicht ausreichend gewürdigt. Aus unserer Sicht muss sich das Rentensystem diesen veränderten Bedingungen anpassen und den Menschen einen flexibleren Einstieg in die Rente ermöglichen. Für mich ist die individuelle Lebensarbeitszeit eines Menschen ein wichtiger Baustein für ein gerechtes Rentensystem.
Gerecht muss allerdings auch immer heißen: gerecht AUCH für die jüngere Generation, die mit ihren Beiträgen die Renten von immer mehr älteren Menschen finanzieren soll. Die frohe Botschaft ist: Wir werden immer älter – unser Gewinn an Lebensalter steigt erheblich schneller als die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre binnen zwei Jahrzehnten uns glauben machen will. Während 1960 die Rentenbezugsdauer bei durchschnittlich 9,9 Jahren lag und 2004 bei 16,9, wird sie sich 2030 mit 19,8 Jahren gegenüber 1960 bereits verdoppelt haben. Wenn aber jeder Mensch im Schnitt zehn Jahre länger Rente bezieht und damit sein Rentenaufkommen verdoppelt – woher soll das Geld kommen, wenn gleichzeitig immer weniger junge Menschen in die Rentenkasse einzahlen? Diese Ausgangslage ist der Grund für die notwendige schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters.
Viele Rentner glauben, dass sie mit der Rente zurück erhalten, was sie selbst an Beiträgen eingezahlt haben – das ist aber schon lange ein Trugschluss. Jeder Renteneuro besteht heute zu ca. einem Drittel aus Steuergeldern: Gut 80 Mrd. Euro sind im Bundeshaushalt 2011 als Zuschuss aus Steuern für die Rentenkasse vorgesehen – mehr als ein Viertel des gesamten Bundesetats. 1991 musste der Bund dafür übrigens „nur“ knapp 30 Mrd. ausgeben, 1998 waren es nach der falsch finanzierten Deutschen Einheit zu Lasten der Sozialkassen schon 51,4 Mrd. Euro. Das heißt: Binnen nur 12 Jahren (1998 bis 2010) geben wir Jahr für Jahr fast 30 Mrd. Euro MEHR als Rentenzuschuss aus Steuermitteln aus – Tendenz steigend.
Mit den Reformen ab 2003 wurden auch bei den Rentnern Einschnitte gemacht – der Unmut darüber war und ist groß. Dennoch konnte die aufgezeigte Kostenexplosion nur verlangsamt, nicht aber gestoppt werden. Dieser Anstieg der Rentenzuschüsse um 28,6 Mrd. Euro jährlich binnen 12 Jahren entspricht fast dem Dreifachen der Gesamtausgaben des Bundes für Bildung und Forschung bzw. dem gut Vierfachen des Ressorts für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Und was für die Rente gilt, ist bei den Pensionslasten noch viel dramatischer – sie explodieren in den nächsten zwei Jahrzehnten vorhersehbar. Kein Politiker kann diese Entwicklung aber mehr verhindern – denn die Rechtsansprüche an Rentenversicherungsträger und den Staat haben sich Rentner wie Beamte seit Jahrzehnten erworben. Zwar haben Bund und Länder in den letzten Jahren begonnen Versorgungsfonds aufzubauen und die Frühverrentung zu stoppen – aber viel zu spät. Und wer bezahlt bei mangelnder finanzieller Vorsorge? Neue Schulden?
Die SPD will Perspektiven für anständig bezahlte Arbeit und sichere Altersvorsorge schaffen – beides hängt miteinander zusammen. Deutschland hat momentan etwa 1,8 Billionen Euro Schulden, eine Summe, die man sich nur schwer vorstellen kann. Mit neuen Schulden können wir die steigenden Kosten also nicht finanzieren, das wäre auch nicht gerecht gegenüber den kommenden Generationen. Bereits heute belaufen sich allein die Zinslasten des Bundes auf über 40 Milliarden Euro pro Jahr – Tendenz steigend. Damit fehlt dem Staat jedes Jahr mehr Geld für notwendige Investitionen in die Zukunft: Bildung, die Förderung von Kindern, Familien, Arbeitssuchenden und eben auch den Älteren. Aus diesem Grund war es trotz aller Proteste richtig, dass SPD und CDU/CSU in der Großen Koalition im Jahr 2007 den Einstieg in die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalter auf 67 Jahre beschlossen haben. Die Regelaltersgrenze soll schrittweise ab 2012 um einen Monat, ab 2024 um zwei Monate pro Jahr erhöht werden, so dass erst ab 2029 das gesetzliche Renteneintrittsalter bei 67 Jahren läge - die Geburtsjahrgänge 1964 und jünger wären dann diejenigen, die bis 67 Jahren arbeiten müssten. Sollte eine Mehrheit im Bundestag unserem Antrag auf Verschieben des „Startjahres 2012“ folgen, dann würde eben statt 2029 erst entsprechend später die Anhebung auf 67 Jahre umgesetzt.
Für die SPD war immer klar, dass eine Anhebung der Altersgrenze nicht isoliert erfolgen kann, sondern die Belastungen für die Betroffenen im Blick gehalten werden müssen. Die SPD hat deshalb in der Großen Koalition durchgesetzt, dass die Bundesregierung durch eine sogenannte „Überprüfungsklausel“ ab 2010 verpflichtet ist, alle vier Jahre über die Entwicklung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu berichten. Sie muss einschätzen, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertretbar erscheint und die getroffenen gesetzlichen Regelungen bestehen bleiben sollen. Es zeigt sich, dass der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Alter von 60 bis 64 von 10,7 Prozent im Jahr 2000 auf 21,5 Prozent im Jahr 2009 gestiegen ist. Dieser Anstieg ist zwar deutlich, aber immer noch unbefriedigend – für die rund 80 Prozent der Menschen über 60, die keinen Arbeitsplatz haben, würde eine Anhebung des Renteneintrittsalter schlicht wie eine Rentenkürzung wirken.
Neben dem Blick auf den Arbeitsmarkt ist es uns aber auch wichtig, ob eine Erwerbstätigkeit bis 67 überhaupt in allen Berufen realistisch ist. Wir müssen daher eine ehrliche Bilanz der sozialen Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer ziehen. Vor allem in körperlich anspruchsvollen Berufen vom Maurer bis zur Krankenpflegerin erreichen Beschäftigte bereits heute längst nicht immer das normale Rentenalter, sondern scheiden bereits vorher mit niedrigeren Rentenbezügen aus ihrem Beruf aus. Nur 3,9% aller Frauen und nur 10% aller Männer gehen aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in eine abschlagsfreie Rente – damit ist der eigentlich erwünschte Normalfall mittlerweile die Ausnahme und nicht die Regel. Wir wollen Modelle entwickeln, dass ältere Arbeitnehmer – besonders in körperlich fordernden Berufen – ihren in Jahrzehnten gesammelten Sachverstand an die jüngeren Kollegen weitergeben, statt weiter vorwiegend körperlich hart zu arbeiten. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels werden Ältere aufgrund ihrer guten beruflichen Ausbildung und Erfahrung künftig stärker in der Arbeitswelt gebraucht. Ältere Arbeitnehmer werden gebraucht – statt sie „aufs Altenteil abzuschieben“ müssen wir sie in die Arbeitswelt zu fairen und verträglichen Bedingungen integrieren.
Die von Ihnen angesprochene Lösung, anstatt des festen Renteneintrittsalters eine feste Zahl von Beitragsjahren in die Rentenkasse anzulegen – etwa 45 Jahre – wird immer wieder diskutiert. Allerdings muss das nicht für jeden Einzelnen zu einer fairen Lösung führen – insbesondere für berufstätige Frauen, die Kinder erzogen oder Familienangehörige gepflegt haben, ergeben sich bei einer festen Zahl von Beitragsjahren große Benachteiligungen. Aber auch andere Arbeitnehmer, die z.B. durch die Insolvenz ihres Arbeitgebers unverschuldet arbeitslos werden und dann – wenn überhaupt – lange in prekärer Beschäftigung tätig sind, oder Jugendliche, die wegen fehlender Ausbildungsplätzen in berufsvorbereitenden Maßnahmen „Warteschleifen“ hinnehmen mussten, würden durch eine solche Regelung Mühe habe, je eine armutsfeste Rente zu erreichen. Solche menschlichen Schicksale hat es in den vergangenen Jahren viele gegeben – besonders dramatisch ist die Lage im Osten Deutschlands. Die direkte Kopplung an die Beitragsjahre ist also nur auf den ersten Blick die scheinbar gerechteste Variante.
Klar ist aber auch für die SPD: Die Beitragsjahre müssen bei der Rente eine entscheidendere Rolle spielen. Schlimm ist in diesem Zusammenhang, das Schwarz-Gelb mit dem Haushalt 2011 entschieden hat, die von der SPD eingeführten Rentenbeitragszahlungen für Langzeitarbeitslose ersatzlos zu streichen: Dadurch „spart“ der Bund zwar 2 Mrd. Euro pro Jahr… in Wahrheit „spart“ er aber gar nichts, sondern reißt ein Loch in die Rentenkasse. Schon bis 2014 fehlen dadurch 8,4 Mrd. Euro in der Rücklage der Rentenversicherung, die in naher Zukunft durch Beitragserhöhungen zu Lasten der Arbeitnehmer aufgebracht werden müssen. Und den Langzeitarbeitslosen fehlen im Rentenalter wichtige Beitragsjahre. Wussten Sie, dass 40 Prozent aller Alleinerziehenden langzeitarbeitslos und damit hiervon betroffen sind?
Das SPD-Parteipräsidium hat mit dem schon angesprochenen Beschluss vom 23. August 2010 die Kommission „Zukunft der Alterssicherung – Schutz vor Altersarmut“ unter Leitung von Kurt Beck eingerichtet, die die Diskussion in der gesamten Partei moderieren, bündeln und einen Beschlussvorschlag für den ordentlichen SPD-Bundesparteitag im November 2011 vorlegen soll. Bis dahin sind alle SPD-Gliederungen aufgefordert, sich an der wichtigen Diskussion zu beteiligen und gemeinsam faire, finanzierbare und damit zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln, damit auch unsere Kinder noch eine staatliche Rente in Anspruch nehmen können. Sie sind herzlich eingeladen, sich an dieser Diskussion zu beteiligen.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre Bettina Hagedorn