Frage an Barbara Lochbihler von Carmen F. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Hallo Frau Lochbihler,
Ich habe gerade aus einer ernstzunehmenden Quelle erfahren, das EU-Abgeordnete von ihrer Fraktion vor den Abstimmungen eine Abstimmliste erhalten, die sie bei den Abstimmungen "abarbeiten". Wenn Abgeordnete mehrmals gegen die Fraktionsentscheidung stimmen würden, erhielten sie dadurch finanzielle oder auch persönliche oder politische Nachteile.
1. Gibt es eine solche Abstimmungsliste?
2. Welche Konsequenzen ergeben sich , falls der Abgeordnete nicht nach Fraktionsmeinung abstimmt.
3. Treffen sie ihre Abstimmungsentscheidungen nach persönlicher Recherche und intensiver Behandlung mit dem Thema, oder nach Listen, Empfehlungen etc?
4. Wer beantwortet die Anfragen an sie, sie selbst, persönliche Mitarbeiter, oder Fraktionsangestellte unter ihrem Namen?
5. Sind die Antworten, die sie geben Standartantworten der Fraktion, mittels Copy/Paste, oder aus eigener persönlicher Recherche und Überzeugung?
Ich bitte sie um eine ehrliche Antwort. Vielen Dank schon mal für ihre Mühen.
Mit freundlichen Grüßen
Carmen Fischer
Sehr geehrte Frau Fischer,
vielen Dank für Ihre Fragen. Es ist in der Tat so, dass vor Abstimmungen solche Listen angefertigt werden. Das hat verschiedene Gründe. Erstens dauern Abstimmungen im Parlamentsplenum manchmal mehrere Stunden. Um die Abstimmungen überhaupt in dieser Zeit über die Bühne zu bringen, wird vorwiegend mit Abkürzungen und Absatzzahlen gearbeitet. Ohne übersichtliche Listen wäre eine Abstimmung schlichtweg unmöglich, wir Abgeordneten verlören den Überblick, würden falsch abstimmen oder ähnliches. Das wäre weder im Sinne der Wählerinnen und Wähler noch im Sinne der Demokratie im Allgemeinen. Wenn Sie nachvollziehen wollen, was ich genau meine: Alle Abstimmungen, wie auch alle Plenumsdebatten, werden auf der Webseite des Europäischen Parlaments live übertragen. Einfach mal in einer Plenumswoche um die Mittagszeit reinschalten, dann wird bestimmt vieles klarer.
Hinzu kommt, dass der größte Teil der Gesetzgebung, die Sie in Deutschland betrifft, vom Europäischen Parlament ausgeht. Bei den Abstimmungen geht es also um Tierschutz, Chemikalien in der Babynahrung, Stahlhandel mit Bangladesch, Flüchtlingsschutz, Roaming-Gebühren beim mobilen Telefonieren, Stromnetzwerke, Bürokratieabbau, Krisenherde wie Syrien, Religionsfreiheit in Indonesien, Fruchtfolge auf europäischen Äckern, den Import von Soja bei der Viehzucht und etliche weitere Themen. So sehr ich als Abgeordnete versuche, über alle Themen zumindest grundlegend bescheid zu wissen - häufig fehlt einfach die Zeit oder das nötige Fachwissen, die tausenden Details bei den anstehenden Abstimmungen zu erforschen und nachzuvollziehen. Deshalb gibt es wie bei jedem nationalen Parlament auch spezifische Ausschüsse, besetzt mit den Spezialisten der einzelnen Fraktionen, in denen die Sachverhalte vor der finalen Abstimmung im Plenum diskutiert und verhandelt werden. Und diese Spezialisten sowie ihre Mitarbeiter in der Fraktion stellen dann auch Abstimmungslisten fürs Plenum zusammen, damit ich mich bei Voten über elektronische Spannung oder Finanzhochfrequenzhandel meine Stimme so abgeben kann, wie es die grünen Spezialisten empfehlen - und damit meine Finanzkollegen ihre Stimme in meinen Spezialgebieten wie Menschenrechten, Flüchtlingsschutz und Außenpolitik so abgeben, wie es mir und meinen Kolleginnen und Kollegen in dem Bereich richtig erscheint. Nur so ist es möglich, als grüne Fraktion auch einheitliche und kohärente grüne Politik zu machen. Abstimmungslisten sind demnach kein Problem, sondern vor allem hilfreich und zielgerichtet.
Falls nun aber - um ein weiteres Beispiel zu nennen - ein Finanz- oder Agrarkollege eine dezidierte Meinung zur Lage der Menschenrechte im Südsudan hat, die mit der von mir und meinen Expertenkolleginnen und -kollegen nicht übereinstimmt, hält ihn zumindest bei uns Grünen niemand davon ab, unseren Vorschlägen nicht zu folgen. Bei anderen Fraktionen mag es Sanktionen geben, das müssten Sie dort erfragen. Bei uns Grünen ist jeder frei, abzustimmen, wie er oder sie es möchte. Es gibt Diskussionen in der Fraktion und Abstimmungslisten, ja. Es wird auch stets versucht, eine gemeinsame Linie zu finden. Aber die Abstimmungslisten sind ein Angebot, keine Verpflichtung. Bei besonders kniffligen Fragen kommt es sogar vor, dass die Abstimmungslisten zwei oder mehr Abstimmungsoptionen zeigen - mit der jeweiligen Argumentation der jeweiligen Befürworter. Dann kann jeder und jede nach eigenem Wissen und Gewissen entscheiden und entsprechend argumentieren.
Die Antwort auf Frage 3 erübrigt sich somit: In den Gebieten, in denen ich mich auskenne, stimme ich nach persönlicher Überzeugung und, falls notwendig, Recherche ab. Ich bin aber demütig genug, mich bei Fragen der Telefontechnologie oder in spezifischen Agrarfragen nicht besser auskennen zu wollen als Ingenieurinnen und Bio-Landwirte in meiner Fraktion. Deshalb vertraue ich ihren Ratschlägen. Wenn ich aber Zweifel habe, frage ich nach oder stelle Recherchen an. Und wenn diese ergeben, dass ich mit ihren Ratschlägen nicht einverstanden bin, stimme ich eben anders ab.
Zu Ihrer Frage 4. Anfragen erhalte ich viele, ebenso wie meine Kolleginnen und Kollegen im Parlament täglich sehr viele erhalten. Die Beantwortung hängt deshalb auch hier vom Fachbereich ab. Persönliche Fragen an mich, die meine Arbeit und meine Themenbereiche direkt betreffen, beantworte ich selbst. Aus Zeitgründen kommt ein Antwortvorschlag häufig von meinen Parlamentarischen Mitarbeitern. Auch in diesem Fall war das so. Keine Antwort verlässt aber mein Büro, mit der ich mich nicht auch persönlich auseinandergesetzt habe und die ich nicht selbst gelesen und angepasst habe. Bei Fragen in Bereichen, in denen ich mich nicht im Detail auskenne, überlasse ich eine Antwort entweder direkt meinen Fachkolleginnen oder -kollegen (nach dem Motto: Ihre Frage wurde mir von Frau Lochbihler weitergeleitet mit der Bitte um Beantwortung ...) oder ich bitte Sie um Antwortansätze, die mein Büro und ich dann ausformulieren. In wenigen Fällen, gerade bei Massenmailaktionen, erstellt auch die Fraktion Standardantworten, die ich als Grundlage für meine Antworten nutze. Aber auch dann lesen mein Büro und ich diese vorher durch, um sicherzustellen, dass die darin getroffenen Aussagen meinen Ansichten auch voll und ganz entsprechen.
Ich hoffe, Ihnen hiermit einen Einblick in die Funktionsweise des Europäischen Parlaments gewährt zu haben.
Mit freundlichen Grüßen,
Barbara Lochbihler