Frage an Barbara Lochbihler von Helmut S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Ethnische Vertreibung in der Westbank?
Sehr geehrte Frau Lochbihler,
Vor kurzem las ich im Internet, in der "Area C" der West Bank (seit dem Oslo-Abkommen ist das Gebiet in die Zonen A, B und C unterteilt), die 62 % der Gesamtfläche der West Bank abdeckt, leben heute noch 5,8 % der palästinensischen West-Bank-Bevölkerung. (Quelle: European Heads of Mission in Jerusalem and Ramallah / "Area C and Palestinian State-building" July 2011)
Bei diesen 62 % handelt es sich um den strukturell und ökonomisch interessanteren Teil der West Bank. Unter anderem gehört dazu das fruchtbare und für die Wasserversorgung wichtige Jordantal. In diesem lebten 1967 zwischen 200.000 und 320.000 Palästinenser. Im Jahre 2011 waren noch 16.800 Einheimische mit festem Wohnsitz dort ansässig.
Sind Sie der Meinung, dass die Vorgänge in der Area C den Tatbestand der ethnischen Vertreibung im Sinne des Völkerrechts erfüllen?
Mit der Bitte um eine substantielle Antwort grüße ich Sie.
Helmut Suttor
Sehr geehrter Herr Suttor,
das Völkerrecht kennt den Begriff der "ethnischen Vertreibung" nicht. Sie verweisen zu Recht auf das Jahr 1967; in diesem Jahr fand der dritte arabisch-israelische Krieg statt. Der so genannte Sechstagekrieg folgte massiven Drohungen aus Ägypten, Syrien und Jordanien gegen Israel, der Sperrung der Straße von Tiran durch Ägypten und einem ägyptischen Truppenaufmarsch an der israelischen Grenze. Am Ende des Krieges kontrollierte Israel u.a. die Golanhöhen, das Westjordanland und den Gazastreifen. Kein anderer Konflikt strahlt in vergleichbarer Weise politisch und religiös so weit über die betroffene Region hinaus wie der israelisch-arabische Konflikt. Bisherige Anstrengungen zur Konfliktregelung sind im Sande verlaufen. Die Fronten sind nach wie vor verhärtet.
Mit der Resolution 1397 vom 12.3.2002 hat sich auch der VN-Sicherheitsrat der Forderung angeschlossen, den israelisch-palästinensischen Konflikt in der Struktur zweier nebeneinander existierender Staaten zu regeln. Eine Zwei-Staaten-Regelung sähe mit geringfügigen Ausnahmen für die zwei souveränen Staaten die Grenzen von 1967 vor. Es gibt inzwischen ausgearbeitete Vorschläge für einen Gebietsaustausch und den israelischen Rückzug aus Siedlungen, ebenso für andere zentrale Fragen wie Jerusalem und das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, Ressourcenverteilung und Sicherheitsprobleme. Laut Umfragen gibt es sowohl auf israelischer wie auf palästinensischer Seite eine Mehrheit für eine Zwei-Staaten-Regelung. Gleichzeitig halten aber auch Mehrheiten in beiden Gesellschaften eine friedliche Konfliktregelung für unmöglich, weil sie der jeweils anderen Seite unterstellen, letztlich eine Zwei-Staaten-Regelung nicht zu akzeptieren. Politisch ist es seit Jahren nicht gelungen, substantielle Schritte hin zu einer Zwei-Staaten-Regelung zu vereinbaren. Doch die Zeit für eine Zwei-Staaten-Regelung droht abzulaufen. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist nicht der einzige in der Region. Der Großkonflikt mit dem Iran, unter anderem um das iranische Atomprogramm, birgt extrem hohes Konfliktpotential. Zugleich befinden sich Israel und Libanon formal im Kriegszustand, die Situation im Libanon ist weiter sehr fragil. Israel und Syrien haben keine gegenseitigen diplomatischen Beziehungen, die Verhandlungen über die Rückgabe der Golan-Höhen sind blockiert. Innerhalb und zwischen Ländern in der Region existieren vielfältige weitere Konflikte. Progressive Reformbewegungen fordern autoritäre Regime heraus; ein großer Teil der Opposition formiert sich aber in islamistischen Bewegungen.
Die einzigartige Beziehung zu Israel und die Verpflichtung gegenüber seinem Recht auf Sicherheit sind Eckpfeiler deutscher Außenpolitik. Das deutsch-israelische Verhältnis ist durch die Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Deutschland geprägt. Die Verantwortung aus unserer Geschichte besteht dauerhaft und kann nicht durch einen Schlussstrich beendet werden. Wir begrüßen deshalb, dass die Einzigartigkeit des deutsch-israelischen Verhältnisses auch in gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen, politischen und sozialen Beziehungen von außergewöhnlicher Intensität ihren Ausdruck findet. Jeglichen antisemitischen Ressentiments treten wir konsequent entgegen. Verpflichtung gegenüber Israel bedeutet auch, dass wir jegliche Versuche, die historische Schuld Deutschlands zu relativieren, entschieden ablehnen. Gleiches gilt für eine Kritik, die nicht auf israelisches Regierungshandeln, sondern auf eine Dämonisierung Israels oder der jüdischen Israelis abzielt.
Wir treten für die Existenz des Staates Israel und die Sicherheit seiner BürgerInnen ein. Dies heißt allerdings nicht, dass wir uns Sicherheitsbegriffe und Sicherheitsvorstellungen zu eigen machen oder kritiklos akzeptieren, durch welche die Sicherheit Israels auf Kosten der Sicherheit oder des Selbstbestimmungsrechts seiner NachbarInnen durchgesetzt werden soll. Dies wirkt sich langfristig auch kontraproduktiv auf die Sicherheit Israels aus. Dauerhaft können Frieden und Sicherheit in der Region nur gesichert werden, wenn alle nahöstlichen Staaten und Gesellschaften in Sicherheit und Frieden leben. Deutsche Verantwortung bedeutet nicht bedingungslose Solidarität mit jeder Politik gleich welcher israelischen Regierung. Bei der Bewertung des israelischen Regierungshandelns wollen wir die gleichen völker- und menschenrechtlichen Maßstäbe anlegen, die auch für andere Staaten gelten.
Mit freundlichen Grüßen,
Barbara Lochbihler