Frage an Barbara Lochbihler von David M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Lochbihler,
ich habe vor einigen Tagen erfahren dass ganz offensichtlich und nicht wirklich intensiv von Medien und co beachtet das "Handelsabkommen" ACTA derzeit im Ratifizierungsprozess zu sein sein scheint und wohl das EU-Parlament demnächst abstimmen müsste ob es das Abkommen annimmt oder nicht. Ich bin davon entsetzt - sowohl von dem Entstehungsprozess des Abkommens das anscheinend mehr oder weniger hinter verschlossenen Türen und an der Öffentlichkeit und entsprechenden Instiutionen vorbei entstanden ist - als auch von den Zensurmöglichkeiten des Vertrages. Ich habe das Abkommen selber gelesen und interpretiere es so dass eigentlich jeder unbescholtene Bürger dadurch mehr oder wenig ohne Vorwarnung zum Straftäter werden könnte & die Internetprovider quasi gezwungen werden den Datenstrom zu protokollieren, zu kontrollieren und mögliche Missetäter zu bestrafen.
Deswege möchte ich folgendes wissen: Was wissen sie genaues darüber? Wieso ist der gesamte Entstehungsprozess des Abkommens unter Ausschluss der Öffentlichkeit und unter gewaltigem Desinteresse der Medien stattgefunden? Und vor allem entscheidend: Werden sie für das Abkommen stimmen? Ja oder nein, einfache Frage. Und wenn ja: Warum?
Ich bedanke mich für eine hoffentlich baldige Antwort,
mit freundlichen Grüßen
David Moch
Lieber Herr Moch,
vielen Dank für Ihre Frage und dafür, Ihre Besorgnis über ACTA auszudrücken, die ich von ganzem Herzen teile!
Das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) würde in der Tat die Möglichkeiten der Inhaber von geistigen Eigentumsrechten zur privatisierten Durchsetzung ihrer Interessen stärken, während die Schutzbestimmungen für die NutzerInnen nicht in gleichem Maße berücksichtigt würden. Es würde eine freiwillige Zusammenarbeit zwischen Internet-Zugangsanbietern und Rechteinhabern einführen, mit der Gefahr, dass es zun französischen "3-strikes" Strafmaßnahmen sogar ohne faires rechtliches Verfahren kommt. Sogar der Europäische Gerichtshof hat am 24. November 2011 entschieden, dass das Blockieren oder Filtern des Internet-Zugangs keine angemessene Maßnahme für die Bekämpfung von Urheberrechtsverletzungen darstellt. ACTA würde auch unverhältnismäßige zivile Schadensersatzansprüche einführen, die sich lediglich nach dem Verkaufswert von getauschten Dateien bemessen und nicht daran, ob diese Dateien ansonsten jemals entsprechend oft gekauft worden wären. ACTA würde auch den Zugang zu generischen Medizinprodukten für Entwicklungsländer erschweren, wenn sie durch Häfen in ACTA-Unterzeichnerstaaten verschifft werden, also etwa durch Europa oder die USA.
ACTA wurde allein deshalb initiert, weil einige Industriestaaten ihre Agenda zur Durchsetzung des geistigen Eigentums in legitimen multilateralen Institutionen wie WIPO oder WTO aufgrund wachsenden Widerstandes durch Entwicklungs- und Schwellenländer nicht mehr durchsetzen konnten. Daher sind erstere zu einer Koalition der Willigen übergegangen, die mehr als zwei Jahre lang Geheimverhandlungen führte. Die ACTA-Verhandlungsunterlagen sind bis heute nicht öffentlich, und die Entwürfe des Abkommens wurden erst auf massiven Druck des Europäischen Parlaments hin veröffentlicht.
Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament haben dieses gefährliche Abkommen über die letzten zwei Jahre bekämpft. Wir haben zwei Studien in Auftrag gegeben, um die Auswirkungen auf die Grundrechte und auf den Zugang zu Medizin zu untersuchen, welche klar die großen Probleme und Gefahren von ACTA nachgewiesen haben. Wir haben eng mit der NGO- und AktivistInnen-Community zusammengearbeitet, und wir haben alle notwendigen Schritte unternommen, um zu klären, wie ACTA dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt werden kann. Alle Informationen dazu finden sich hier: http://en.act-on-acta.eu .
Jetzt, da die EU-Ratspräsidentschaft und einige Mitgliedsstaaten das Abkommen unterzeichnet haben, wird sich das Europäische Parlament wird sich mit der Ratifizierung von ACTA befassen. Am wichtigsten werden die Ausschüsse LIBE (Bürgerrechte), JURI (Recht) and INTA (internationaler Handel - federführend zu ACTA) sein.
Sie können sich darauf verlassen, dass ich gegen das Abkommen stimmen werde.
Wenn Sie selber aktiv helfen wollen, ACTA zu verhindern, dann rate ich Ihnen, vor allem liberale (ALDE) und sozialdemokratische (S&D) Abgeordnete in den o.g. Ausschüssen zu kontaktieren, denn es ist bisher unklar, wie diese Fraktionen sich am Ende verhalten werden. Ihre Stimme kann hier einen wichtigen Unterschied machen! Vielen Dank für die Hilfe!
Mehr Informationen finden Sie unter folgenden Links:
* Grüne/EFA Pressemitteilung zur Unterzeichnung von ACTA: http://www.greens-efa.eu/de/durchsetzung-von-marken-und-urheberrecht-5090.html
* Position von Europäischen Professoren zu ACTA ("Hannover-Gutachten"): http://www.iri.uni-hannover.de/tl_files/pdf/ACTA_opinion_200111_2.pdf
* Studien zu ACTA im Auftrag der Fraktion Grüne/EFA:
* ACTA and Access to Medicines: http://rfc.act-on-acta.eu/access-to-medicines
* Compatibility ACTA with the European Convention on Human Rights & the EU Charter of Fundamental Rights: http://rfc.act-on-acta.eu/fundamental-rights
* Mexikanischer Senat fordert Regierung auf, ACTA nicht zu unterzeichnen: http://www.senado.gob.mx/index.php?id=9376&lg=61&mn=2&sm=2&ver=sp
* FFII blog zu ACTA: http://acta.ffii.org/
* ACTA-Abkommenstext: http://trade.ec.europa.eu/doclib/html/147937.htm
Mit freundlichen Grüßen
Barbara Lochbihler