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Anton Hofreiter
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Frage von Andrea N. •

Frage an Anton Hofreiter von Andrea N. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Dr. Hofreiter,

bald steht die Entscheidung im Bundestag zum Bleiberecht, bzw. der Novellierung des Aufenthaltsgesetzes an. In diesem Zusammenhang bitten wir Sie uns Ihre Position zu erläutern. Der Antrag der Grünen im Bundestag im November 2006 (Bundestag Drucksache 16/3340) stellte ja bereits einige deutliche Forderungen an ein neues Bleiberecht, enthält aber auch sehr schwammige Formulierungen wie „Es dürfen keine unverhältnismäßigen Anforderungen an die Erfüllung von Mitwirkungspflichten gestellt werden.“
Der Beschluss der Innenministerkonferenz bedeutet einen einmaligen „Gnadenerlass“, der nur für Menschen gilt, die vor einem bestimmten Stichtag eingereist sind. Eigentlich sollte das Zuwanderungsgesetz die Praxis von „Kettenduldungen“ abschaffen, bislang ist das leider nicht passiert – und die Situation ist für die ungefähr 200.000 Geduldeten unerträglich. Wie stehen Sie zu der Alternative eines verankerten Rechtsanspruchs auf gesicherten Aufenthalt, der auch später eingereisten ein "Hineinwachsen" in ein Aufenthaltsrecht ermöglicht?
Um ein Bleiberecht zu erhalten, muss der zuvor geduldete Arbeit finden – das würden die Betroffenen ja auch sehr gerne, aber nur allzu oft ist es ihnen aus Mangel an Arbeitsplätzen nicht möglich. Die inhumane Konsequenz ist dann, dass eine Familie, die mehr als sechs Jahre hier lebt und Kinder hat, die hier geboren wurden und zur Schule gehen, abgeschoben wird – finden Sie das angemessen und menschenwürdig?
Eine Fülle von Ausschlusskriterien führt dazu, dass die meisten Geduldeten kein Bleiberecht erhalten. Wer zum Beispiel mehrfach beim Schwarzfahren erwischt wurde, während seines Lageraufenthalts nicht genug Deutsch gelernt oder sich gegen seine Abschiebung gewehrt hat, der soll kein Bleiberecht erhalten. Eine Stellungnahme der Grünen bezeichnete den Beschluss der Innenminister als „engherzige Regelung“ – was ist Ihre Position?

A. Naica-Loebell
Karawane München

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Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau Naica-Loebell,

mit großer Sympathie habe ich Ihre E-Mail gelesen, in dem Sie sich eindringlich für eine wirksame Bleiberechtslösung für langjährig geduldete Menschen einsetzen. Wir teilen Ihre Einschätzung, dass die von der Innenministerkonferenz im November 2006 getroffene Altfallregelung völlig unzureichend ist. Das gleiche gilt leider für den im März 2007 von der schwarz-roten Bundesregierung vorgelegten Entwurf einer bundesgesetzlichen Regelung. Dieser übernimmt im Wesentlichen die rigiden Bedingungen der Länderminister und -ministerinnen und verbindet sie mit Verschärfungen im Asylbewerberleistungsgesetz.

Aus unserer Sicht ist zweierlei erforderlich, um dem Problem der Kettenduldung zu begegnen. Zum einen brauchen wir eine großzügige Altfallregelung mit Bedingungen, die der Großteil der 175.000 Geduldeten tatsächlich erfüllen kann. Zum anderen brauchen wir grundsätzliche Verbesserungen bei der Ermöglichung des Aufenthalts aus humanitären Gründen, damit auch in Zukunft - jenseits von Stichtagen - der Übergang von der Duldung zur Aufenthaltserlaubnis erreicht werden kann.

Zu beiden Ansätzen hat die grüne Bundestagsfraktion Anträge eingebracht:

Bereits im Dezember 2005 forderten wir mit einem Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Drs. 16/218, http://www.dip1.btg/btd/16/002/1600218.pdf ), eine Bleiberechtsregelung, die Folgendes vorsah:

• Wer sich seit mindestens fünf Jahren (vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung) rechtmäßig oder geduldet im Bundesgebiet aufgehalten hat, kann eine Aufenthaltserlaubnis erhalten.
• Von der Voraussetzung des fünfjährigen Mindestaufenthalts kann in Härtefällen abgesehen werden, insbesondere bei unbegleiteten Minderjährigen, Traumatisierten und Opfern von Gewalttaten.

Im Februar 2006 forderten wir mit unserem Antrag „Kettenduldungen abschaffen“ (Drs. 16/687, http://www.dip1.btg/btd/16/006/1600687.pdf ) ergänzend Verbesserungen im humanitären Aufenthaltsrecht (§ 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz).

Beide Anträge sind leider von der großen Koalition am 9.11.2006 abgelehnt worden.

Stattdessen ließ sie die Innenminister und -ministerinnen gewähren, deren „Bleiberechtsregelung“ viele Bedingungen aufstellte, die von den meisten langjährig Geduldeten nicht erfüllt werden können und die in umständlichern bürokratischen Verfahren geprüft werden müssen. Diese Unzulänglichkeiten mit der Altfallregelung will die Bundesregierung in Gesetzesform gießen. Und dies, obwohl sich bereits jetzt auf Länderebene zeigt, dass nur wenige Geduldete bislang eine Aufenthaltserlaubnis erhalten konnten.

Zwar sollen mit der gesetzlichen Regelung bisher Geduldete endlich eine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitssuche erhalten – das hatten Grüne wie Flüchtlingsorganisationen immer wieder gefordert. Dennoch ist absehbar, dass angesichts der vielen anderen Fallstricke nur eine kleine Zahl der Betroffenen ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten werden.

Unsere wesentlichen Kritikpunkte am Altfallregelungsvorschlag der Bundesregierung sind:

• Die geforderten Mindestaufenthaltszeit (acht Jahre bzw. sechs Jahre bei Familien mit Kindern) ist zu lang und wird von fast der Hälfte der Geduldeten nicht erfüllt.
• Darüber hinaus gibt es einen langen Katalog von Bedingungen, von Deutschkenntnissen über den Grundsatz der Erwerbstätigkeit bis zur Straflosigkeit. Bei letztem Punkt sieht die Bundesregierung sogar eine Art Sippenhaftung vor: Hat ein Familienmitglied Straftaten begangen, werden auch alle anderen vom Bleiberecht ausgeschlossen.
• Besonders problematisch: Die Ausländerbehörde darf nicht „getäuscht“ worden sein und Mitwirkungspflichten bei der eigenen Aufenthaltsbeendigung dürfen nicht verletzt worden sein. Beides unterstellen viele Ausländerbehörden bei fast allen langjährig Geduldeten und sie verstehen unter „vorsätzlicher Verzögerung“ nicht selten bereits die Beschreitung des Rechtsweges. Ausländerbehörden erhalten mit der vorgesehenen Regelung also die Möglichkeit, nahezu jeden Antrag abzulehnen.
• Erwerbsunfähige (Kranke, Behinderte) und Alte werden faktisch vom Bleiberecht ausgeschlossen, denn für sie müssen Lebensunterhalt, Betreuung und Pflege ohne staatliche Hilfe sichergestellt sein. Das ist praktisch unerfüllbar, weil sich kaum eine Krankenkasse finden wird, die bereit ist, sie aufzunehmen.
• Volljährige Schülerinnen und Schüler sowie Studierende werden genötigt, ihren erfolgreichen Bildungsweg abzubrechen, um sich eine Arbeit zu suchen. Ausgenommen von der geforderten Lebensunterhaltssicherung durch Erwerbstätigkeit sind explizit nur „Auszubildende in anerkannten Lehrberufen oder in staatlich geförderten Berufsvorbereitungsmaßnahmen.“
• Gut integrierten Schülerinnen und Schülern im Alter von 14 bis 18 Jahren bietet die Bundesregierung ein eigenständiges Aufenthaltsrecht an – unter der Bedingung, dass die Eltern ausreisen. Das ist zynisch, familienfeindlich und zudem unrealistisch.
• Die Länder können entscheiden, dass diejenigen, die eine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitssuche erhalten haben, weiterhin nur Lebensmittelpakete nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten.
• Die Bundesländer können außerdem anordnen, dass ganze Nationalitätengruppen von der Regelung ausgeschlossen werden. Insbesondere Bayerns Innenminister Beckstein hat bereits wiederholt deutlich gemacht, dass er irakische Flüchtlinge generell für ein Sicherheitsrisiko hält, und sie daher von der Bleiberechtsregelung ausschließen will.

Zudem enthält das Gesetzespaket der Bundesregierung („Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union“), das den Vorschlag zur Bleiberechtsregelung beinhaltet, gravierende Verschlechterungen im Ausländerrecht. Unter anderem soll die Familienzusammenführung beschränkt und die Einbürgerung erschwert werden. Integration will die Bundesregierung mit Bußgeldern erzwingen. Flüchtlinge sollen noch länger als bisher nur Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, die unterhalb des gesellschaftlichen Existenzminimums liegen. Zudem werden verbindliche EU-Richtlinien zum Schutz von Flüchtlingen (Opfer willkürlicher Gewalt, Kriegsdienstverweigerer und aus religiösen Gründen Verfolgte) mit dem Gesetz unzureichend umgesetzt.

Völlig zu Recht mahnen Sie in Ihrem Schreiben neben einer Bleiberechtsregelung an, dass die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland endlich ohne Wenn und Aber umgesetzt wird. Hierzu haben wir im März 2006 den Antrag „Kinderrechte in Deutschland vorbehaltlos umsetzen – Erklärung zur UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen“ (Drs. 16/1064, http://www.dip1.btg/btd/16/010/1601064.pdf) vorgelegt, dessen Behandlung in den Ausschüssen bis heute von der großen Koalition blockiert wird. Um eine Aussprache zu dem Thema im Bundestag zu erzwingen, haben wir im Januar 2007 zudem eine Große Anfrage gestellt (Drs. 16/4205, http://www.dip1.btg/btd/16/042/1604205.pdf).

Wir werden uns im parlamentarischen Verfahren weiter für eine Bleiberechtsregelung einsetzen, die diesen Namen verdient. Darüber hinaus wenden wir uns gegen die geplanten inhumanen und integrationsfeindlichen Verschärfungen im gesamten Ausländer- und Flüchtlingsrecht, die in der Öffentlichkeit bisher kaum thematisiert werden.

Wir hoffen, hiermit Ihrem Anliegen zu entsprechen und wünschen Ihrem Engagement viel Erfolg, denn es dient der notwendigen Integration von Menschen, die nach jahrelanger Ungewissheit eine tragfähige Zukunftsperspektive in Deutschland erhalten müssen.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Anton Hofreiter

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