Frage an Annette Schavan von Thorsten H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Dr. Schavan,
ich habe hier bei Abgeordnetenwatch eine Frage an einen anderen Politiker entdeckt, die ich gerne auch Ihnen stellen würde:
nach folgendem Urteil des Bundesverfassungsgericht Zitat:
Bundesverfassungsgericht 30.06.2009 Urteil 2BvE 2/08:
"Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt (Bemerkung meinerseits: der Begriff ist sehr unglücklich gewählt) allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten…"
Meine Frage:
Wann wird dem Deutschen Volk der EU-Beitritt (Verfassung bzw. Vertrag von Lissabon) + die geplante EU-Wirtschaftsregierung zur Abstimmung vorgelegt und wann eine Verfassung für das Deutsche Staatsgebiet?
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgericht ist das unwiderruflich dem deutschen Volk vorbehalten.
Mit freundlichem Gruß,
Thorsten Henkel
Sehr geehrter Herr Henkel,
vielen Dank für Ihre Frage vom 27. August 2011.
Artikel 23 Grundgesetz ermächtigt die Bundesrepublik Deutschland, an der Verwirklichung eines vereinten Europas mitzuwirken, das demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet ist und einen dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Dazu können durch Gesetz auch Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen werden. Bedingung ist allerdings - so hat es das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 gesagt - dass den Mitgliedstaaten ein ausreichender Raum für die Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse verbleibt. Dazu gehört z.B. das Haushaltsrecht, die Staatsbürgerschaft, das Gewaltmonopol, der Umgang mit dem religiösen Bekenntnis oder die Familien- und Bildungspolitik einschließlich der deutschen Sprache. Das Bundesverfassungsgericht hat dies mit dem "unantastbare(n) Kerngehalt der Verfassungsidentität" bezeichnet.
Das Gericht hat in seinem Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 auch die Frage geprüft, ob die von ihm selbst so definierte Grenze für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union bereits überschritten ist, wie dies die Beschwerdeführer in ihren Schriftsätzen dargelegt hatten. Das Gericht hat diese Ansicht zurückgewiesen. Ein Verlust der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland ist also nicht zu beklagen. Wäre es das Ziel der Politik, die Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland durch weitere Hoheitsübertragungen auf die Europäische Union zu entleeren, käme es zu der Situation, dass darüber in einer Volksabstimmung nach Artikel 146 Grundgesetz entschieden werden müsste. Das Bundesverfassungsgericht hat sich übrigens vorbehalten, darüber aus eigener Verantwortung zu wachen.
Da die Grenze dessen, was der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit an Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union zulässt, nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Vertrag von Lissabon nicht überschritten wurde, gab es auch keinen Anlass, das deutsche Volk hierüber in einer Volksabstimmung entscheiden zu lassen.
Das Grundgesetz ist die endgültige Verfassung des vereinigten Deutschland und gilt durch die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl im Jahr 1990 als vom Volk bestätigt. Nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit durch Beitritt der DDR zum Grundgesetz nach Artikel 23 Grundgesetz (alte Fassung) am 3. Oktober 1990 und nach Beendigung der alliierten Besatzungsrechte durch den Zwei-Plus-Vier-Vertrag wurde die Bezeichnung "Grundgesetz" für die Verfassung des nun vereinigten Deutschland beibehalten. Nachdem sich Forderungen nicht durchgesetzt hatten, die Wiederherstellung der deutschen Einheit zum Anlass zu nehmen, das Grundgesetz gemäß Artikel 146 (alte Fassung) durch eine neue Verfassung abzulösen, wurde auch davon abgesehen, das Grundgesetz in Verfassung "umzutaufen".
Der neue Artikel 146 Grundgesetz stellt fest, dass nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands (formal durch den Einigungsvertrag) das Grundgesetz für das gesamte deutsche Volk gilt, das Wiedervereinigungsgebot also erfüllt ist. Artikel 146 Grundgesetz (neue Fassung) ermöglicht es gleichwohl, im Wege der Volksabstimmung eine neue Verfassung zu erlassen. Dies wird durch die gemeinsam mit Artikel 146 Grundgesetz erlassenen Regelungen in Artikel 5 des Einigungsvertrages bestätigt, die unter der amtlichen Überschrift "Verfassungsänderungen" den gesetzgebenden Körperschaften der Bundesrepublik die Möglichkeit eröffnen, sich insbesondere "mit der Frage der Anwendung des Artikel 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung" zu befassen. Gegenstand der Volksabstimmung wäre damit der Erlass einer neuen, vom Grundgesetz abweichenden Verfassung, nicht (primär) die Fortgeltung des Grundgesetzes. Bei einem positiven Abstimmungsergebnis träte das Grundgesetz außer Kraft. Als europäisches Projekt ist eine solche Entwicklung aus heutiger Sicht jedoch allenfalls theoretisch denkbar.
Seien Sie herzlich und mit guten Wünschen gegrüßt.
Ihre Annette Schavan