Frage an Annette Schavan von Jenny M. bezüglich Familie
Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Annette Schavan,
nach der Auffassung von Conterganverbänden verhielt sich das Pharmaunternehmen Grünenthal verantwortungslos und rücksichtslos bei der Entwicklung und Vermarktung des neuen Wirkstoffs Thalidomid als Contergan, das im Oktober 1957 rezeptfrei auf den bundesdeutschen Markt kam. Skandalös verhielt sich so Grünenthal gegenüber den vom Kinderarzt und Humangenetiker Dr. Lenz unternommenen Bemühungen, Contergan zu verbieten, nachdem für ihn nach monatelanger Recherche zu den Ursachen der dramatisch ansteigenden Fälle von Phokomelie (vor Contergan beobachtete Häufigkeit 1 : 4 Mio.) im November 1961 der Verdacht auf Contergan als Auslöser von Missbildungen zur Gewissheit geworden war. Lenz informierte den Hersteller von seiner Absicht, seine Erkenntnisse am 19. November 1961 auf dem Kinderärztekongress vorzustellen und bot vorher Grünenthal ein Gespräch zu seinen Ergebnissen an. Die Firmenleitung reagierte mit dem Androhen rechtlicher Schritte und verschickte noch am 20. November 1961 67.000 Werbeexemplare über Contergan mit dem Slogan: Contergan ist ein sicheres Mittel.
Meine Frage hierzu: Werden Sie sich persönlich bzw. Ihre Bundestagsfraktion bei Grünenthal für eine Entschädigung der Conterganopfer einsetzen, die den Betroffenen ein Leben in Würde ermöglicht?
Sehr geehrte Frau Müller,
vielen Dank für Ihre Frage vom 15. Juli 2010.
Seit vielen Jahren beschäftigen wir uns im Deutschen Bundestag intensiv mit der Lebenssituation contergangeschädigter Menschen. Viele Briefe, Interviews und Reportagen sowie nicht zuletzt auch der bewegende Spielfilm anlässlich des 50. Jahrestages der Markteinführung des Schlafmittels Contergan haben uns vor Augen geführt, wie schwer das tägliche Leben der contergangeschädigten Menschen ist und zunehmend wird. Infolge der jahrzehntelangen Fehlbelastung von Wirbelsäule, Gelenken und Muskulatur treten bei den Betroffenen Spät- und Folgeschäden auf, die ihre Lebensqualität stark beeinträchtigen.
In zahlreichen Gesprächen mit Betroffenen und in Expertenanhörungen des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Deutshen Bundestag haben wir diskutiert, was der Gesetzgeber tun kann, um die Lebenssituation der Conterganopfer zu verbessern. Inzwischen haben wir einiges auf den Weg gebracht. Zum 1. Juli 2008 wurden die Conterganrenten verdoppelt. Die Höhe der Zahlung richtet sich nach dem Schweregrad der Behinderung. Seitdem werden die Renten in Anpassung an die gesetzliche Rente automatisch dynamisiert. Gegenüber anderen Leistungen des Sozialgesetzbuches wurden die Conterganrenten anrechnungsfrei gestellt. Darüber hinaus wurde eine zusätzliche jährliche Sonderzahlung eingeführt. Die Verursacherfirma Grünenthal hat sich bereit erklärt, weitere 50 Millionen Euro für die Verbesserung der Situation der Contergangeschädigten als Zustiftung in die bestehende Conterganstiftung zur Verfügung zu stellen.
Auf Bitten des Deutschen Bundestags hat das Bundesministerium für Gesundheit in Gesprächsrunden mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen für die Verbesserung der Versorgung der contergangeschädigten Menschen geworben. Es ist vereinbart worden, bestehende Verordnungsmöglichkeiten und Ausnahmeetatbestände auszuschöpfen und Genehmigungen zügig und unbürokratisch zu erteilen. Mir ist bewusst, dass die contergangeschädigten Menschen weiterhin unsere Hilfe benötigen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir unserer Verantwortung als Politik weiter nachkommen werden.
Seien Sie herzlich und mit guten Wünschen gegrüßt.
Ihre Annette Schavan