Frage an Annette Schavan von Theodor M. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrte Frau Schavan,
angesichts des heutigen Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz4-Regelsätzen möchte ich Ihnen eine Frage zum Bafög stellen:
Das Höchste Gericht hat die Berechnung der Hartz4-Regelsätze kritisiert, weil diese auf einer unzureichenden Berechnungsgrundlage beruhen. Zur Zeit wird davon ausgegangen, dass der Bedarf bei etwa 360 Euro + Miete (für Alleinstehende), also überschlagen etwa bei 700-750 Euro liegt.
Der Bafög-Höchstsatz liegt bei 584 Euro (ohne Krankenversicherung). Damit liegt der Bafög-Satz um bis zu 200 Euro unterhalb des (verfassungswidrigen!) Hartz4-Regelsatzes. Hinzu kommt, dass je nach Bundesland und Hochschule, bis zu 130 Euro monatlich an reinen Studiengebühren (inkl. Sozialbeiträge) gezahlt werden müssen. Somit hat ein Bafög-Empfänger, selbst wenn er voll gefördert wird, bis zu 300 Euro weniger als ein vergleichbarer Hartz4-Empfänger.
Ich frage daher: Wie wird der Bedarf für Bafög-Empfänger ermittelt? Wird der Bedarf "ins Blaue hinein" geschätzt?
Ich möchte hierbei noch das Höchste Gericht zitieren:
"Schätzungen ´ins Blaue hinein´ stellen jedoch keine realitätsgerechte Ermittlung [der Bedarfssätze] dar".
Des Weiteren hat das Gericht geurteilt, dass auch eine Härtefallregelung im Gesetz verankert werden muss, damit auch Kosten gedeckt werden können, die in die Berechnung des Regelsatzes nicht eingeflossen sind.
Inwiefern ist das Hartz4-Urteil auch richtungsweisend für die Gestaltung der Bafög-Sätze?
Wieso muss ein Student, der oft mehr als 60 Stunden pro Woche in seine Ausbildung investiert (die wiederum volkswirtschaftlich rentabel ist) mit deutlich weniger Geld auskommen als ein Hartz4-Empfänger, obwohl der Bedarf eines Studenten nachweislich höher ist (z.B. Ausgaben für Büromaterialien, Bücher, Software, Skripte)?
Mit freundlichen Grüßen,
Theodor Marx
Sehr geehrter Herr Marx,
vielen Dank für Ihre Frage vom 9. Februar 2010.
Zur Höhe der Bedarfssätze beim BAföG im Verhältnis zu den Bedarfssätzen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ist zunächst festzuhalten, dass deren Angemessenheit keineswegs ins Blaue hinein geschätzt, sondern regelmäßig überprüft wird. Durch eine zweijährliche Berichtspflicht gegenüber dem Parlament über die Entwicklung der für das BAföG relevanten Parameter ist gewährleistet, dass die Angemessenheit der pauschalen Bedarfssätze und Freibeträge als solche kontinuierlich überprüft wird. Den jüngsten Bericht zum BAföG hat die Bundesregierung am 13. Januar 2010 vorgelegt.
Unterschiede in der Höhe der Bedarfssätze im BAföG im Vergleich zur Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II resultieren aus dem Umstand, dass grundsätzlich unterschiedliche Sachverhalte geregelt und unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Das SGB II hat insbesondere die Sicherung des Unterhalts von Menschen in typischerweise bereits vorgerückter Lebens- und Erwerbsbiografie vor Augen - gegebenenfalls nachdem sie bereits eine Ausbildung absolviert haben und sich in Zeiten eigener Erwerbstätigkeit einen gewissen Lebensstandard erworben haben - und muss auch für diejenigen eine menschenwürdige Existenz sichern, die langfristig oder gar dauerhaft arbeitslos und auf die Grundsicherung angewiesen bleiben.
Demgegenüber regelt das BAföG zur Sicherung gleicher Startchancen Art und Umfang der Förderung zum Erwerb einer ersten beruflichen Ausbildung. Das BAföG versetzt die Auszubildenden also erst in die Lage, überhaupt einen Beruf zu erlernen, mit dem sie ihren Lebensunterhalt anschließend umso aussichtsreicher selbst sichern können. Für die Dauer der aus Steuermitteln finanzierten Ausbildung ist es den Auszubildenden daher grundsätzlich zuzumuten, ihre Lebensführung mit der Aussicht auf anschließend umso bessere Erwerbsperspektiven erforderlichenfalls vorübergehend stärker einzuschränken, als man es beispielsweise von Grundsicherungsempfängern erwarten könnte, die nach langjähriger Erwerbstätigkeit arbeitslos werden und unter Umständen keine Perspektive auf eine Verbesserung ihrer Situation haben.
Jedes Gesetz regelt insoweit für den von ihm erfassten Personenkreis selbstständig und nach eigenen Maßstäben, wie hoch die zur Existenzsicherung erforderlichen Leistungen jeweils sein müssen. Auch das Bundesverfassungsgericht ist nur deshalb zu seiner Wertung gekommen, weil es um den Kontext der Sicherung des absoluten Existenzminimums geht. Der Gesetzgeber ist bei seinen Wertungen beim BAföG, das neben dem Sozialleistungscharakter zugleich auch einen spezifischen Bildungsförderungsauftrag hat und deshalb beispielsweise auch großzügigere Freibeträge vorsieht als das SGB II, freier und hat einen wesentlich weiteren Einschätzungsspielraum. Er darf dabei auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die erläuterten typisierenden Fallumstände des Regelungsbereichs in seine Wertung und Regelung einbeziehen.
Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass im Rahmen der Einkommensanrechnung im BAföG das Kindergeld - anders als im SGB II- anrechnungsfrei bleibt. Dieser Betrag steht den Eltern des Auszubildenden daher neben der BAföG-Förderung voll für den Unterhalt der Auszubildenden zur Verfügung, während das Kindergeld beim Bezug von Arbeitslosengeld II voll auf den Bedarf der Auszubildenden angerechnet wird.
Um persönlichen Besonderheiten und auch individuell höheren Bedürfnissen Rechnung zu tragen, hat der Gesetzgeber den Auszubildenden außerdem die Möglichkeit eingeräumt, ihre finanzielle Situation durch einen Hinzuverdienst zu verbessern. Das BAföG räumt daher Freibeträge ein, unterhalb derer Einkünfte der Auszubildenden anrechnungsfrei bleiben.
Seien Sie herzlich und mit guten Wünschen gegrüßt.
Ihre Annette Schavan