Frage an Annette Schavan von Markus G. bezüglich Bildung und Erziehung
Sehr geehrte Frau Schavan,
mit Verwunderung habe ich heute (24.7.09) im Radio vernommen, dass Sie das Einschulungsalter senken lassen wollen, weil die Schüler der ersten Klassen unterfordert seien. Das können Sie doch nicht ernst meinen.
Aus meiner Sicht ist es doch viel einfacher, das Einschulungsalter beizubehalten und stattdessen einfach die Erstklässler mit anspruchsvollerem, fordernden Inhalten zu versorgen. Ich kann mich noch an meine eigene Schulzeit erinnern. Da wurde diskutiert, ob die Anforderungen an Schüler in den ersten Klassen nicht reduziert werden sollten, weil der Leistungsdruck zu hoch sei. Im zuge der Diskussion wurde der Unterricht dann "vereinfacht". Man könnte also - ohne an der Altersgrenze etwas zu ändern - einfach die Uhr ein wenig zurückdrehen. Den Schulunterricht in Kindergärten zu tragen und somit die Erzieher fachfremd zu belasten ist nur ein Problem. Ein anderes ist sicher auch, dass den Kindern wieder ein Stück Kindheit genommen wird und auf dem Altar der Leistungsgesellschaft geopfert wird.
Natürlich sind die Kinder dann früher mit ihrer Ausbildung fertig, natürlich kostet das alles weniger. Aber um welchen Preis? Und wieviele sozial schwache bleiben dabei auf der Strecke, die diese Kostenreduktion wieder auffressen?
Also kurz gefragt, wieso wollen Sie diesen - wahrscheinlich mit enormer Bürokratie gepflasterten - Weg gehen anstatt denjenigen, der auf der Hand liegt?
mit freundlichen Grüssen
Markus Gottwals
Sehr geehrter Herr Gottwals,
vielen Dank für Ihre Frage vom 24. Juli 2009.
In einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt, auf das sich der von Ihnen angesprochene Radiobericht bezieht, wurde mir die folgende Frage gestellt: „Ist es zeitgemäß, dass Kinder mit sechs Jahren eingeschult werden?“ Meine Antwort lautete: „Die Altersgrenze von sechs Jahren führt dazu, dass viele Kinder in Deutschland für ihre Verhältnisse zu spät in die Schule kommen. Am Ende der ersten Klasse haben sie dann keine Lust mehr, weil sie unterfordert sind. Also: keinen starren Stichtag.“ Das vollständige Interview ist auf der Internetseite der Zeitung nachlesbar.
Schon seit vielen Jahren plädiere ich dafür, individuelle Lösungen für die Einschulung zu finden, die dem einzelnen Kind und seiner Entwicklung gerecht werden. Starre Regelungen übersehen die Vielfalt persönlicher Profile. Es gibt so viele Wege zu Bildung, wie es Menschen gibt. Lernen ist ein fließender, ganzheitlicher Prozess, der bei jedem Kind individuell verläuft. Deshalb habe ich mich dafür ausgesprochen, Einschulungstermine nicht mehr nach starren Fristenregelungen zu handhaben, sondern den individuellen Entwicklungsstand jedes einzelnen Kindes stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Viele Länder haben diesen Gedanken bereits aufgegriffen und verzichten auf starre Stichtagsregelungen. Selbstverständlich plädiere ich nicht für eine Einschulung mit vier Jahren.
Im genannten Interview habe ich auch betont, dass die Zukunft in einer stärkeren Verbindung von Kindergarten und Grundschule liegt. In Baden-Württemberg gibt es erste Bildungshäuser, die nach diesem Prinzip erfolgreich funktionieren. Die gemeinsame Lernzeit kann dabei durchaus sechs Jahre betragen, wenn früher damit begonnen wird - etwa im Alter von vier statt erst mit sechs Jahren.
Ich werde mich auch künftig dafür einsetzen, die frühkindliche Bildung in Deutschland zu stärken und damit allen Kindern gerechte Bildungschancen zu ermöglichen.
Seien Sie herzlich und mit guten Wünschen gegrüßt.
Ihre Annette Schavan