Frage an Annette Groth von Jörg J. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrte Frau Groth,
wie ich gelesen habe, werden auch Sie an der so genannten "Freegaza" PR-Aktion teilnehmen.
Die israelische Regierung hat angekündigt, die Schiffe nicht nach Gaza durchzulassen und die Aktivisten, wenn nötig festzunehmen und anschließend in ihre Heimatländer zurückzuschicken, die Hilfsgüter zu beschlagnahmen und sie dann wie üblich auf dem Landweg über anerkannte internationale Organisationen den Menschen im Gazastreifen zukommen zu lassen.
Greta Berlin eine der Hauptorganisatorinnen der "Free Gaza-Flotte" erklärte nun gegenüber israelischen Medien; der Gazastreifen sei ein Konzentrationslager und die israelische Regierung plane die Aktivisten von "Free Gaza" ebenfalls in ein solches zu stecken.
Dazu nun folgende Fragen:
1. Stimmen Sie mir zu, dass tagtäglich etliche Tonnen Hilfsgüter auf dem Landweg über Israel in den Gazastreifen gelangen, dass ebenso beinah täglich Menschen aus Gaza den Streifen zur medizinischen Behandlung im Westjordanland oder in Israel verlassen?
2. Stimmen Sie mir zu, dass die Freegaza-Aktion angesichts der Tatsache, dass im Jahr 2009 über 30.000 Truck-Ladungen mit Hilfsgüter aller Art über israelische Grenzübergangsposten nach Gaza gelangt sind und über 10.000 Menschen außerhalb Gazas - selbst die Tochter eines hochrangigen HAMAS-Funktionärs wurde selbstverständlich wegen Herzproblemen in Israel behandelt - medizinisch versorgt wurden, keinem humanitären, sondern einem rein propagandistischen Zweck dient?
3. Distanzieren sich als deutsche Abgeordnete vom unerträglichenen Geschichtsrevisionismus einer der Hauptorganisatorinnen? Stimmen Sie mir, dass es unerträglich ist, wenn Menschen in Israel, auch diejenigen, deren Vorfahren in Konzentrationlagern ermordet wurden, zu "Neuen Nazis" erklärt werden? Würden Sie mit diese Art der NS-vergleichenden "Israelkritik", wie sie auch in deutschen Friedensbewegung üblich ist, als antisemitisch bezeichnen?
Mir freundlichen Grüßen
Jörg Jarolimeck
Sehr geehrter Herr Jarolimeck,
entschuldigen Sie bitte, dass ich erst jetzt dazu komme Ihre Fragen zu
beantworten:
Durch die Blockade ist die humanitäre Situation im Gaza Streifen nach Angaben der Vereinten Nationen und AIDA (Vereinigung internationaler Entwicklungshilfeorganisationen in den palästinensischen Gebieten) unverändert desaströs. Die andauernde Blockade untergräbt ein funktionierendes Gesundheitswesen und bedroht die Gesundheit von 1,4 Millionen Menschen in Gaza. Insbesondere auch die Zukunft der 750.000 in Gaza lebenden Kinder, deren physische und psychische Bedürfnisse nicht gedeckt sind, gibt nach diesen Berichten Anlass zur Sorge. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entspricht etwa 80% des Wassers in Gaza nicht mehr den Normen für Trinkwasser. Die schlechte Wasserqualität führt zu ernsthaften Gesundheitsgefährdungen, von der insbesondere Kinder betroffen sind. Diarrhö, eine leicht vermeidbare Erkrankung, ist in Gaza die Ursache von 12 % der Kindersterblichkeit. Laut WHO wurden im Jahre 2009 etwa 21% der Anträge auf medizinische Behandlung in Israel zu spät oder gar nicht statt gegeben. Zwei Menschen starben, da die Genehmigung zu spät erteilt wurde.
Da Baumaterialien nicht eingeführt werden dürfen, können auch Kriegsschäden nicht behoben und auch Krankenhäuser können daher nicht wieder aufgebaut werden. Die Einfuhr von Lebensmitteln, Kochgas und Strom ist stark eingeschränkt. Das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in den besetzten palästinensischen Gebieten bezeichnete in seinem Bericht vom Januar 2010 die Aufhebung der Blockade als /den/ Schlüssel zur Erholung der Wirtschaft und dem Rückgang von Armut und Arbeitslosigkeit in Gaza. Laut einer Studie von UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge) vom April diesen Jahres ist die Anzahl der Menschen, die in */extremer/* Armut leben von 100.000 im Jahre 2007 (Beginn der Blockade) auf 300.000 im Jahre 2010 gestiegen.
Der tägliche Bedarf an humanitärer Hilfe in Gaza liegt bei über 20.000 Tonnen.Israel lässt nur einen Bruchteil der benötigten Hilfsgüter in den Gazastreifen. Selbst die UNO kann nur einen geringen Teil ihrer Hilfsgüter liefern, da die Waren nur über Israel in den Gaza-Streifen gelangen können. Israel verlangt für die Sicherheitsüberprüfung pro Container 1.500 US-Dollar. Die Prüfung kann Wochen dauern. Während dieser Zeit verlangt Israel weitere Lagerungsgebühren. Leicht verderbliche Ware, wie frisches Obst und Gemüse, kann unter diesen Umständen praktisch nicht geliefert werden. Letzten Endes entscheiden dann die israelischen Beamten vor Ort, was durch kann und was nicht - Schulbänke und Rollstühle werden beispielsweise nicht hineingelassen. Gefrorene Lachshälften wiederum werden durchgelassen, Instantkaffee aber als Luxus zurück gewiesen.
Viele weitere Beispiele für die desaströse humanitäre Lage in Gaza finden Sie unter http://www.ochaopt.org/
Was Ihre letzte Frage anbelangt:
Zunächst müsste man klären, aus welcher Quelle Sie die Anschuldigungen gegen Greta Berlin haben. Es sind viele diffamierende Gerüchte im Umlauf, deren Wahrheitsgehalt oft mehr als fraglich ist. Als deutsche Abgeordnete distanziere ich mich von allen Vergleichen mit der Vernichtungsmaschinerie der Nazis. Als menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE ist es meine Aufgabe, die systematischen Verletzungen der unter Besatzung lebenden palästinensischen Bevölkerung, anzuklagen und mich für die Achtung ihrer Rechte einzusetzen. Internationalen Schutz bieten das Völkerrecht und das humanitäre Völkerrecht. Diese internationalen Vereinbarungen werden aber von Israel ignoriert. Es ist Aufgabe der Staatengemeinschaft, für die Durchsetzung dieser Konventionen Sorge zu tragen, was bisher leider nicht geschehen ist. Ebenso verurteile ich die Raketenbeschüsse auf Israel und fordere die Freilassung von Gilad Shalit.
Ich hoffe, damit Ihre Fragen beantwortet zu haben und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Annette Groth